Thousand Miles Away From Home

Der Zeltabbau auf dem wasserbettähnlichen Campingplatz bei Four Gotes gerät zur Schlammschlacht. Trotz aller Vorsicht zertrampele ich mit jedem Schritt das feine englische Gras rings ums Zelt und sofort quillt hellbrauner Schlamm zwischen den Halmen hervor, legt sich auf die Schuhe. Unmöglich, das klatschnasse Zelt davor zu schützen. Mit einigen Gramm dieser klebrigen Substanz im Gepäck und ein paar Flecken an den Radlerkleidern und Händen rolle ich los.

Nordwärts auf einer fast schnurgeraden Straße B1192. Trocken. Das heißt kein Regen. Ganz normale pfälzische Frühlingswolkenschichten am Himmel. Zu Hause würde ich wagen zu behaupten, der Tag wird schön. Aber hier? Hinter Brothertoft gerate ich in eine Art Radlerrausch. Alles stimmt. Beine, Atem, perfekter Takt, Lance Armstromlinienförmiger Körper. Die Landschaft stimmt auch. Ich bin wieder fest im Sattel nach der gestrigen Depression, die ich zu 9/10tel auf das Kopfgebäude zurückführe, das ich errichtet habe. Die Kirche des Grauens im Innern ist es, die einen niedergeschlagen macht. Anhand der Wettervorhersage auf dem iPhone, von der ich weiß, dass sie nie stimmt, habe ich ein Fachwerk des schlechten Wetters errichtet und es mit Steinen gegenwärtigen Seins vermauert. Feines Häuschen, das mir suggeriert hat, du wirst bis Aberdeen, zwei Wochen, tausend Kilometer weit nur bei Regen und Sturm radeln. Aber das geht doch nicht.

Ein Typ, den ich vor 12 Jahren in der Nähe von Montpellier gesehen habe, kommt mir in den Sinn. Sein böser Blick, als ich ihm vorbeiradelnd einen guten Tag wünsche. Er war über und über mit Lehm verdreckt, so wie Stan und Oli in Dick und Doof als Fremdenleginäre, kleines Bündel auf dem Rücken. Es hatte geregnet, und alles, was in den Weinbergen übernachtet hatte, war mit Lehm bekleckert. Ich hatte damals das Glück gehabt, ein Stück Wiese zu finden.

So rolle ich auf Chapel Hill, im Meer der Erinnerungen badend. Lache innerlich über die vielen lustigen Namen, die einem hier begegnen. Hill. Tse. Damit kannst du einem Pfälzer nicht kommen. Gib mir einen Donnersberg und pack noch eine Kalmit drauf, Fischjakobesk leg die Totenkopfroute nach und einen Eschkopf, ha, ich bin übermütig. Chapel Hill sieht von Weitem so aus, als hätte jemand einen überdimensionalen Reißnagel in die Ebene gedrückt.

Kurz vor Woodhall Spa kommt die Sonne durch. Ein Wetter wie in der Pfalz. Also doch. Ich packe das verschmutzte nasse Zelt aus, hänge es über einen Gartenzaun und übers Fahrrad zum Trocknen, will mir gerade ein Bier aufmachen, da verbellen mich zwei Hunde vom Haus gegenüber. Eine weißhaarige Frau ruft mich herbei und wir schwätzen ein bisschen. Im winzigen, fischerhüttenähnlichen Häuschen kocht sie mir einen Kaffee, gibt mir selbst gebackene Pizza, Schokokuchen. Hilda hat viele Enkelkinder, die nach der Schule hungrig zu ihr kommen, und so hat sie ständig frisch gekochtes im Haus. Übers Leben und dass es besser sein könnte, aber nicht müsste; über die Langsamkeit, mit der wir ganz normalen Alltagsmenschen unsere Projekte voranbringen. Ihr Sohn macht Glasskulpturen, aber er ist kein Glasbläser. Sie macht eine Handbewegung, als würde er flüssiges Glas in Formen gießen. Und sie würden überlegen, einen kleinen Zeltplatz aufzumachen für die Radtouristen. Das Anwesen liegt direkt am N1. Und neu bauen. Und die Wirtschaftskrise. Einmal mehr kommt es mir so vor, als stünde jemand, als stünden viele ganz normale Leute, auch ich, wie Lemminge an einer steilen Klippe, und das was draußen in der hohen Wirtschaftswelt vor sich geht, wo Gelder verschoben werden, über das Schicksal tausender Ahnungsloser entschieden wird, geht uns zwar eigentlich nichts an, ist aber entscheidend, ob wir weiter am Klippenrand stehen dürfen oder springen.
Hilda und ich sind uns einig: das Leben ist schön.

Der Radweg auf der „Water Railway“ zwischen Boston und Lincoln wird ab Woodhall Spa einfach beautiful. Alle Meilen stehen Schilder, die die Geschichte des River Witham und der Gegend darstellen. Das harte Leben der Kanalbauer, die Landgewinnung, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich fruchtbar war, mit der Erfindung der dampfbetriebenen Pumpe. Das Land hat sich gut 6 Meter abgesenkt durch die Trockenlegung, so dass die Entwässerungskanäle über dem Niveau des Landes liegen. Auch vom Krieg wird erzählt. Die Gegend südlich von Lincoln war Englands Bomber-Land. Am Himmel donnern auch jetzt noch Jagdflieger.

In Lincoln führt doch glatt ein halber Zweibrücker Kreuzberg bis in Kathedralenviertel. Ich muss schieben, so steil kommt mir das ca. 300 Meter lange Stück Straße vor. Ruhe vor der wuchtigen Kathedrale. Es schlägt fünf. Ein Straßenmusiker mit weißem Anzug und roter Brille spielt nuja, so Bob Dylan-Songs und Flowerpower. Macht mich ganz melancholisch. Ich gebe ihm 70 Pee, nen knappen Euro. Sonst hat er nur Kupfer, auch in England das geringste, im Kasten. Aber er spielt dennoch voller Leidenschaft.

Heute will ich B&B, verlasse Lincoln Richtung Nettleham. Polizeiakademie dort. Schönes Dörfchen. Kilometer 1600 überschritten. Pi mal Daumen bin ich jetzt „Thousand Miles away from Home“. Da der Tageskilometerzähler sich sowieso bei 16-irgendwas auf null setzen würde, nulle ich ihn bei exakt 1600, um nicht durcheinander zu kommen.

In Scothem frage ich nach B&B. Fehlanzeige. Ein Dorf westlich aber gäbe es so etwas. First Class. Stur folge ich der N1 Richtung Market Rasen und verliebe mich in einen gemütlichen Platz an einem Public Footpath, unweit eines einsamen Gehöfts.

Nun ist es sonnig, windig, kühl. Ich werde heute Engelberts Tipps beherzigen, die er per Mail geschickt hat. Ich glaube, da ist etwas in Hull dabei. Nördlich der Humber Bridge.

(entfippthelert und gepostet von Sofasophia)

6 Antworten auf „Thousand Miles Away From Home“

  1. Ach, diese Hilda! Sind es nicht die Hildas (außer der Landschaft natürlich), die solch‘ eine Reise erlebenswert machen?! Nach so einer netten Begegnung denkt man doch sicher nicht mehr ans Aufgeben, sondern an mehr (nicht nur Meer).
    LG, April

  2. ja… ich bin fan… und ja, ich kommentiere schon wieder… manchmal dachte ich schon, ach lass es doch sein… bei all den schlauen kommentaren deins zu schreiben… aber ich kann eben auch nicht aus meiner haut und dank soso, schreibe ich heute abend eben wieder…
    deine art zu schreiben und zu kommentieren ist, neben aller inspiration, einfach nur helle freude in meiner stube! und ja, heute schreibe ich es dann doch wieder: danke für dich! und gute nacht und trockene träume und morgen mindestens solch einen schönen tag, wie heute und natürlich noch ganz viele hildas…
    hilda und du haben mich zu dem inspiriert: http://cafeweltenall.wordpress.com/2012/04/25/das-leben-ist-schon/

  3. Entwässerungskanäle über dem Niveau des Lebens, habe ich mich verlesen.
    Dein Lebensniveau mit Matsch, Gegenwind, Nebelungen in und um den Kopf, mit dem gestrengen personal coach, der freundlich in sich hinein grinst und gesund abwägt, mit Hilda im Essenswartestand und dem schönen Leben. Das ist es!!
    Gruß von Sonja

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