Buchhalterlyrik

Ca. Sommer 2006 geschrieben:

Auf dem Sektor der Literatur gibt es die verschiedensten Genres. Eines davon ist die Buchhalterlyrik. Eine Sparte, die dem herkömmlichen Menschen nur schwer verständlich sein dürfte, sind doch die Schriftwerke durchweg seelenlos und von einem höchstmaß an Substantivierung gekennzeichnet.
Man sagt dem Genre nach, seine Magnifikanz beruhe in der Aufrechnung von Haben und Soll.
Am Nachmittag rief Fred an: „Hast du Lust mitzukommen zu einem Lyrik-Abend? Ich habe einen Preis gewonnen, werde lesen.“
Fred bekniete mich, ich solle mir das Ereignis nicht entgehen lassen. „Ich hole dich ab,“  befahl er.
Zweifellos ist Fred ein sehr kreativer Buchhalter. Vor einigen Jahren hatte er die Puppenkopffabrik mittels legaler Finanztricks vor dem Ruin gerettet und den 54 Arbeitern und Angestellten ihren Posten erhalten. Seine debitorial-kreditorische Kreativität ragt jedoch weit über den buchhalterischen Horizont hinaus, so dass er in seiner Freizeit mit dem Schreiben begonnen hatte. Seit er letztes Jahr den wohl wichtigsten Preis für Buchhalterlyrik, den Regino-von-Weizacker-Preis gewonnen hatte, wird er als der Shootingstar in dem noch neuen Segment der Literatur gehandelt.

Das Literaturtreffen fand im Foyer einer Großbank statt. Ungefähr 150 Gäste saßen auf unbequemen Stühlen, welche im Halbkreis um das Lesepodium  aufgestellt waren. Zunächst hielten die Honoratioren ihre nicht zu knappen Reden. Hinz dankte Kunz. Anschließend sprach Kunz und dankte Hinz. Auch auf die Sponsoren ging man mit würdigen Worten ein. Dann wurden die Preise verliehen. Fred stand stolz und bückte sich devot, als die Vorstandvorsitzende ihm eine Goldmedaille um den Hals hängte und ihm einen Umschlag mit 1500 Euro in die Hand drückte.

Ein wenig beklommen verfolgte ich das Szenario. Unter den Gästen ware ich der einzige, der keinen Anzug trug. Ich glaube, Fred hat sich für mich geschämt. Trotzdem war er froh, nicht alleine in diesem Haifischbecken zu schwimmen.

Er las sein Gedicht „Handhabung intraindividueller Konflikte“, vier Verse in geradezu börsianischer Rhytmik. Mit kratziger Stimme performierte er:

„Weißt du in Erwartung des Wertentgangs,
ob der Konfliktgrad umso größer ist?
Ist die von dir angestrebte Lösung nicht
Grundmodell jeglichen Kalkulationszinsfußes?“

Fred laß, wenn auch heißer, langsam und deutlich. In den Pausen ließ er dem Publikum ausgiebig Raum, zu applaudieren. Das macht den Profi aus. Er pointierte sein prämiertes Werk mit einem gewagten Zweizeiler:

„Auseinandersetzungen zwischen Entscheidungsinstanzen
harren nicht vor Termin- und Belastungsschranken.“

Eine rothaarige Dame neben mir war zu Tränen gerührt.

Nun wieder im Waldhaus. Ich komme nicht umhin: dieser Tag war bizarr. Ein Ausflug in die Welt der Finanzmärkte und zurück. Im, von Zikaden umsurrten Waldhaus kommt es mir absurd vor, dass Menschen sich an solchen Texten ergötzen können. Texte, in denen jedes Wort eine Goldmünze ist. Zwangsläufig kenne ich nun die Gedichte aller sieben Preisträger. In keinem kommt ein Lebewesen vor. Hier in der Waldhütte bin ich umringt von Lebewesen. Wenn ich dichten würde, würde ich nur über Lebewesen schreiben. Über die atemberaubende Rasanz des Hasenficks, oder über die dröge, langanhaltende Paarung der Rehe.

Vielleicht ist es eine Frage des Millieus. Menschen, die tagein, tagaus mit der Bewertung und Verrechnung von Gegenständen zu tun haben, schreiben darüber. Menschen, die einheitlich in der Natur atmen, sehen, fühlen, tun etwas anderes.

3 Antworten auf „Buchhalterlyrik“

  1. Da fällt mir ganz spontan mein – leider schon verstorbener – Freund und Kollege U. ein, der dafür bezahlt wurde, im Amt ohne Widerkehr dafür zu sorgen, dass SteuerschuldnerInnen auch pünktlich ihre Steuern zahlen, und der den schönen Spruch erfand: „Du sollst den Scheck nicht vor der Gutschrift loben!“
    Wobei, das passt hier wohl nicht ganz zum Thema, denn das war ja dann eher BuchhalterLOGIK statt -LYRIK. ;-)

    Aber „Hut ab!“ vor Fred, der mit der Rettung der Puppenkopffabrik mindestens 100 Menschen auf einen Schlag sehr glücklich gemacht hatte. Wer kann das schon von sich behaupten, dass ihm das jemals gelungen wäre.

    Aber genug geplaudert. Zurück zu den Debitoren! Völlig lyrikfrei, dafür im allerschönsten amtsdeutsch! :-)

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