Bahnsteigslalom

Bahnhof Z. Vor einem Jahr hat man ihn grundauf renoviert, die Bahnsteige höher gelegt, so dass man ebenerdig in die schicken neuen Bimmelbähnchen einsteigen kann, die allesamt heimelig die Namen kleinster Haltestellen in der Pfalz und im Saarland tragen. Da gibt es einen „Dellfeld, einen „Alsenz“, sogar einen „Hassel“, das ist mein Lieblingsbahnhof, gibt es. Und man hat wunderbare, großräumige Aufzüge eingebaut, so dass selbst schwerst bepackte Radler oder Gehbehinderte bequem von Gleis zu Gleis kommen. Anders als in der Schweiz, wo die Bahnsteige mittels langer, wartungsfreier Rampen verbunden sind, hat man sich im hochtechnisierten Deutschland für diese schicke Lösung entschieden. Deshalb dauerte es wohl auch ein gut dreiviertel Jahr, bis die Aufzüge erstmals in Betrieb genommen werden konnten. Am Bahnhof Z. gibt es einfach alles: einen Shop, Taxistand, Dächer, falls es mal regnet, in denen auch Tauben Schutz finden und da man keine Spieße, wie sonst üblich, an die Stahlträger geschweißt hat, machen die Viecher von den Ruheplätzen regen Gebrauch. Überall hochwertiger, weißer Guano-Dünger. Z. kann sich mit Fug und Recht als die Vogelinsel der Pfalz bezeichnen. Immerhin sind die Sitzgelegenheiten baulich voneinander so getrennt, dass nur Penner, die in einem früheren Leben Fakir waren, darauf schlafen können.

Eines hat man vergessen: eine Lautsprecheranlage einzubauen. Wunderbare Stille. Ich glaube, die Lautsprecheranlage fehlt, weil die einzige Putzhilfe, also der einzige Mensch, der hier überhaupt arbeitet und sich morgens um die Taubenscheiße und die Spucke pubertierender Jugendlicher vor den Bänken kümmert, taubstumm ist. Ich habe sie mehrfach schon gegrüßt, gelächelt, denn wir sehen uns ja täglich, doch sie hat nie zurück gegrüßt. Das bedeutet, sie kann nicht sprechen.

Gibt es also keine Durchsagen am Bahnhof Z. Neulich steckten mir einige Fahrgäste, der Zug habe Verspätung. Selbsthilfe wird groß geschrieben am Bahnhof Z. Aber mehr noch, man hat das Ansagesystem taubstummengerecht, aber nicht analphabetengerecht revolutioniert. Nach einigem hin und her laufen, wie das Wartende so tun, entdeckte ich im Eingang einen schmutzigen, mit grünem Stoff bezogenen Stuhl, auf dem eine uralte Tafel lehnte, auf der geschrieben Stand „Zug ins Nachbarstädtchen S. ca. 25 Min. später.“

Ich zückte mein Notizbuch, setzte mich in die Sonne, beobachtete die Menschen. Eine junge Frau gefiel mir. Sie starrte autistsich hinauf zu den Tauben. Vielleicht ist sie Düngemittelfachfrau, notierte ich. Oder der alte Herr, der mir begegnete, als ich um die Ecke in eine Hecke pinkelte – ein Bahnhofsklo gibt es nämlich auch nicht. Ist auch besser so. Ich grüßte den Mann und er verneigte sich nach alter Schule, „guten Morgen der Herr“, sagte er. Als ich dies notierte, streifte mich ein Junge, der um den stählernen Mülleimer schlich, sich an meiner, nur 70 cm entfernt stehenden ebenso stählernen Bank vorbei quetschte, weiter den Bahnhof entlang schlenderte. Alle haben sie Langeweile im Warten auf den Zug nach Irgendwo. Erst, als der Junge die selbe Strecke zurück lief, merkte ich, dass er um Bänke, Laternen, Mülleimer, Stahlpfosten, die alle auf einer geraden Linie liegen einen Zick-Zack-Kurs lief. Welch fragiles System. Wusste ich es doch, der spinnt. Wie ein Tiger im Käfig, auf und ab und streng im Slalom. Um die Sache besser zu verstehen, verließ ich meinen Sitzplatz, stellte meinen Rucksack fünf Meter neben den Mülleimer in gerader Linie zu den Pfosten und Laternen und begab mich weitere fünf Meter entfernt auf die Linie. Wollen doch mal sehen, ob er mich und meinen Rucksack mit aufnimmt in den Slalom. Schon näherte er sich links der Bank, quetschte sich rechts am Mülleimer vorbei und passierte die Laterne in sattem Schwung links. Nun der Rucksack. Mein Herz klopfte. Der Junge stutzte, stoppte, starrte den Rucksack an, dann mich, so als hätte ich etwas Böses getan, scharrte mit den Füßen. Naa? Zwei drei Sekunden mochte er da gestanden haben, dann kam er direkt auf mich zu, raunte: „Ist da Eisen drin?“ Er zeigte auf den Rucksack. „Nö, nur Klamotten.“ Schnell handeln, Irgendlink, dachte ich und fügte lapidar hinzu, „Boah, dieses Wetter, macht mir zu schaffen, vor allem das neue Hüftgelenk, ist ja aus Stahl, wie das juckt bei dem Wetter, die Narbe ist fast 20 cm lang.“

Der Junge ließ mich wortlos links liegen.

Eine Antwort auf „Bahnsteigslalom“

  1. eine junge, tauben anstarrende frau würde ich nicht autistisch nennen,
    wohl aber diesen rain-man-slalom-jungen- voll die anzeichen.
    juckende hüftgelenke lösten prutschendes lachen aus…
    gruß von sonia

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