Alles

Gut, dass ich das lederne Notizbuch habe. Darin rette ich die Struktur von Ideen. Es ist, als wäre ich ein junger Alexander von Humbold auf der Suche nach fremden Pflanzen, nach Saatgut, nach südamerikanischen Mumien, die ich in leichenschänderischer Schamlosigkeit auf Eseln durch die Anden trage. Jawoll. Mein Notizbuch beinhält all das Fremde, das ich der Welt in Form von Worten nahe bringen möchte. Jedes Wort ein Samenkorn, jeder verkrüppelte Satz eine fremde Pflanze. Und dabei reise ich nicht in die ferne, unbekannte Welt, sondern forsche inmitten des ach-so-bekannt scheinenden Alltags. Aber was ist wirklich gewöhnlich? Wir alle glauben, der Alltag und die Gesellschaft, die wir täglich vor Augen haben, ist bis zur Gänze erforscht.

Paperlapapp.

In den Nischen zwischen dem Gewohnten lauert so viel Neues, so viel Abstraktes, Abstruses, nicht Hinterfragtes, dass Leute wie ich (und wie andere Blogger) es einfach erforschen, notieren, bekannt machen müssen.

Natürlich wende ich in meinem Online-Textwerk eine harsche Technik an, verschiebe die Schablonen des Lebens, suche nach Kongruenz, nach Ähnlichkeit, nach Mustern, nach sich Wiederholendem und bin manchmal bass erstaunt, was daraus gelingen kann.

Ein Hoch auf mein ledernes Notizbuch. Ex-Freundin Kokolores fragte neulich: „Was steht da drin?“ Ich sagte: „Alles.“

Seither sage ich immer bedeutungsschwanger „Alles“, wenn jemand nach dem Buch fragt. Die tolle T. fragte und ein fremder im Zug und die beiden Mädchen heute Morgen, denen ich im Zug gegenüber saß. Ich notierte gerade eine Passage über den Werdegang der Menschheit, in der ich skizzenhaft die Theorie äußerte, dass Kriege mehr und mehr verinnerlicht werden, sich also nicht mehr zwischen den Völkern ereignen, sondern im einzelnen Menschen stattfinden. Dass aus chaotischen Sippenstrukturen Feudalherrschaft wachsen musste und dass die Feudalgesellschaft unweigerlich die Demokratie gebären musste und die junge Demokratie diktatorische Megastaaten hervorbringen konnte, weswegen es zu Kriegen kommen musste. Da aber heute konsumatorische Verhältnisse herrschen und Konflikte über das Wirtschaftsleben gelöst werden können, gibt es bald keine Kriege mehr und der letzte Schritt der Menschwerdung ist, den Krieg in sich selbst anzuzetteln, innerlich zu verzweifeln, krank zu werden, in Scheinwelten zu flüchten – letztenendes fällt die Entscheidung, wie es mit der Menschheit weitergeht beim Psychiater und nicht auf dem Schlachtfeld, konklusierte ich.

All das kritzelte ich ins lederne Notizbuch. Nur wenige Worte, die ich später mal ausformulieren würde. (Nun sind es ja auch nur ein paar Worte, aber ein paar mehr, als im Notizbuch). Die Mädchen gegenüber im Zug zeichneten sich deutlich vor verschwimmender Landschaft ab. Wir saßen im Fahrradabteil und starrten queren Blickes aus dem Fenster. Jetzt ein Fotoapparat!

„Was schreiben sie?“ fragte eine. „Alles“, antwortete ich wie gewohnt und grinste.

Eine Antwort auf „Alles“

  1. spannend! dein lederbuch ebenso wie deine immerwährende antwort zu dessen inhalt.

    doch noch spanndener finde ich deine these über das wesen und unwesen des krieges. seltsamerweise habe ich heute was ganz ähnliches in mein allzeitbereites notizbuch geschrieben (das allerdings nicht aus leder ist). aus einer anderen perspektive zwar, und doch …

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