Die passiv-korrupte Speerspitze eines Jahrtausende währenden Kriegs.

Um das einsame Gehöft tummeln sich einige Großbaustellen: ein Stück Straße wird dreispurig ausgebaut und ist seit Monaten in nur eine Richtung befahrbar. Weiter unten drücken sie ein Rückhaltebecken in den Wald. Die Baumaschinen lässt man nachts auf dem Acker stehen. Es gilt als Gesetz, dass montags früh die Polizei die Schäden aufnimmt, die durch ungesehene Besucher im Dunkel verursacht werden. Grundsätzlich stehen montags früh sämtliche Container sperrangelweit offen und sämtliche Maschinen müssen neu betankt werden, weil jemand den Diesel abgezapft hat. Das ist eine ganz natürliche Sache, die dem normalen Menschen nur ein Schulterzucken entlockt. „Es ist eben so. Das ist unsere Welt. Wir haben sie gewollt, gemacht, wir leben darin – sollen die doch ihre Dieselfahrzeuge freitags leer pumpen und alles Wertvolle aus den Containern räumen. Selber schuld. Die Diebe? Die sind nicht schuld. Die haben recht. Was nicht ausdrücklich bewacht wird, gehört ja Allen. Schneid‘ dir deinen Teil vom Kuchen.“

300 Liter hat jemand neulich rausgepumpt. Klasse Profit. Das bedeutet beim Osterferientarif gute 350 Euro.

Ich will hier nicht als Moralapostel erscheinen, aber: wünscht sich denn niemand außer mir, dass er seine Wohnungstür nicht mehr abschließen muss, dass er seine Wertsachen auf Tischen liegen lassen kann, sein Fahrrad mal unverschlossen für einen Tag in einer Großstadt stehen lassen kann? Wie muss man denn ticken, wenn man einfach Dinge, von denen man nur eines weiß, die gehören mir nicht, mitnimmt?

Im frühen Skandinavien der 90er Jahre, wie ich es durchradelte, war ich verblüfft, dass die Leute ihre Wohnung nicht abschließen, dass arglose Dänen am Straßenrand Schalen voller Erdbeeren abstellen, daneben ein Preisschild und ein Stein, unter den man die Geldscheine legt. Dass das funktionierte, ließ mich offenen Mundes durch die Gegend radeln und ich kaufte, zahlte, wechselte, klemmte einen weiteren Schein unter den Stein.

Dem ist heute nicht mehr so. Die gesellschaftliche Korruption hat längst den verwunschensten Winkel der Welt erreicht und nichts nichts nichts ist mehr sicher.

Ich gebe zu, dass ich 1992 wissentlich mit Seemann S. eine halbe Stunde telefonierte. Er rief mich aus Island an im Oktober, wo er, wie er sagte, ein paar Tage keimte in einer Hütte weit draußen zwischen den Gletschern. Sie war unverschlossen und das Telefon stand auf dem Tisch. Er war einsam, badete nackt in Gletscherseen und telefonierte. Im Nachhinein muss ich sagen, dass dies nur ein weiteres Puzzlestück im zehntausendteiligen Spiel der Verdorbenheit dieser Welt war. Er hätte das nicht tun dürfen und ich hätte sofort auflegen müssen. Aber diese Welt hat mich so sehr verseucht, dass auch ich zum korrupten Dreckschwein geworden bin, auch wenn meine Grenzen weit höher angesiedelt sind, als die von allen anderen. Ich bin die passiv-korrupte Zwielichtfigur an der Speerspitze eines Jahrtausende währenden Krieges. Vergesst doch den 2. Weltkrieg, Pol Pot, Stalin und Hitler, die Gesellschaft leidet seit 5000 vor Chr. oder schon immer an einem viel schlimmeren Krieg, der sie von innen aushöhlt und schließlich vernichten wird. Reih‘ dich ein ins Heer derer, die es gut meinen mit sich selbst.

Ich habe telefoniert. Seemann S. ist einer meiner besten Freunde.

Eine Antwort auf „Die passiv-korrupte Speerspitze eines Jahrtausende währenden Kriegs.“

  1. … und dann gibts noch jene leute, die im grossverteiler klauen und sagen: dass da was geklaut wird, ist eh schon im preis drin. aktiv-korrupt …

    öhm … wo bin ich da gelandet? aber auch „wer unter euch ohne schuld sei“ … passiv-korrupt …

    na ja, ich werf lieber mit gar nix, weder mit steinen noch mit speeren, und bleibe mir treu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: