Der große V.I.P.-Strudel

Jazzfest im Nachbarstädchen S. letzte Woche Sonntag, letzter Tag. Starpianist Jaqcques L. aus Frankreich hatte sich angesagt. Eigens für ihn organisierte man einen V.I.P.-Empfang im Neubau über den sanitären Anlagen. In einem staubigen Rohbau-Raum, der später als Stühle-Lager dienen soll, hatte man roten Teppich ausgelegt. Mitorganisatorin Iris (ich schreibe den Namen mal aus, weil das später nicht ohne ausgeschriebenen Namen geht), hängte Poster an die Wände. Der Caterer zeigte sich im besten Kostüm. Dass er den besten Wein auf den Tisch brachte, muss ich an dieser Stelle dementieren, weil ich nach der Veranstaltung eine Flasche Roten rausschmuggelte und sie am selben Abend kippte, weshalb ich montags so viele Schmerzen hatte. Geschmeckt hat er auch nicht. Aber das ist Privatsache.

Der Ministerpräsident des kleinen Bundeslandes S. hatte sich angesagt, mitsamt Bodyguards. Volles Programm. Die V.I.P.s trudelten gegen 18 Uhr ein. Der Oberbürgermeister als Gastgeber kam erst eine Dreiviertelstunde später. Ich hatte genug Zeit, die Szene zu beobachten, denn Jacques L. mitsamt Trio war der einzige Auftritt, zudem pflegeleichte Künstler, die einfach nur ihre Ruhe haben wollten (und somit auch niemanden im Backstagebereich duldeten, der ihnen Wünsche von den Augen abliest).

Techniker B. beobachtete die Szene genau wie ich. Wir standen neben der Bühne. „Weißt du, was S.W.L. bedeutet?“ fragte ich. Er zuckte mit den Schultern. „Sau Wichtiche Leit“, gab ich im Jargon des Bundeslandes S. zum Besten.

Zwischendurch formulierte ich an einem Blogartikel über die Szene, was nicht ganz einfach ist, weil so viele verschiedene Themen aufkamen: zum Beispiel die Presse, wie sie nervig um die Künstler scharwenzelte, den Veranstalter penetrierte, es ihnen gar gelang in den V.I.P. (S.W.L.)-Raum Einlass zu bekommen. Es gibt eigentlich nur eine Sache, die peinlicher aussieht, als ein Hund wenn er defäkiert: der Fotograf, wenn er fotografiert. Später, wenn die Show begonnen hat, werden sie wieder auf Knien vor der ersten Reihe herumrutschen und von schräg unten den Künstlern unters Doppelkinn fotografieren oder sich neben der Pflanze links außen krümmen wie ein Asket, der jahrelang nichts gegessen hat, um ein gutes Bild zu machen. Bühnen-Lichtverhältnisse sind katastrophal. Ständig wechselndes Licht, alles in Bewegung. Bühnenfotografie ist das Schwerste, finde ich, was es gibt.

„Die vielen verschiedenen Themen“, dachte ich, „wirst du am Besten in drei vier verschiedenen Blogeinträgen niederschreiben, das sorgt für Ordnung. Zuerst den V.I.P.-Strudel, dann die Journalisten und in einem dritten Eintrag gibst du dem Cateringtäuscher sein Fett.“ Später, als sich eine ergreifende Szene mit Klomann F. M. ereignete, warf ich den Plan über Bord. „Wassen Quatsch. Das ist ein einziger Abend und so bizarr ist nunmal ein Jazzfest. Alles gehört zusammen. Es passiert parallel. Also schreib‘ es auch in einem runter. Der V.I.P.-Strudel ist sowieso als eigenständiger Eintrag untauglich, besteht er doch nur aus einem Satz … warte Mal, wie könnte ich den formulieren … jaa, genau, ich habs.“ Ich kam mir vor wie Wickie. „Das wirst du schreiben: Der Ministerpräsident ist der Ober-V.I.P. alle anderen V.I.P.s sind gekommen, um ihm zu hündeln. In ihrem Kleinmut sehen sie es als große Ehre, ihm die Hand schütteln zu dürfen, gar ein paar Worte zu wechseln. Vielleicht haben sie ja auch Absichten, wollen Karriere machen oder Bitten anbringen, wer weiß? Bei ihren Freunden angeben?“

Zwischendurch begegnete mir Amtsleiter R., der dritte oder vierte oder fünfte im V.I.P.-Strudel. Über beide Ohren grinsend, reckte er die rechte Hand. Sie war verkrampft, als habe er sie gerade geschüttelt bekommen: „Diese Hand werde ich niiiie wieder waschen“, rief er, „Frau von B. – Wenzel von B., DIE von B. –  hat sie mir gerade geschüttelt.“ Wow,“ heuchelte ich, „DIESE Hand würde ich sofort in Gießharz konservieren.“

Ich beobachtete weiter. Wer so weit unten steht auf der V.I.P.-Skala hat sowieso keine andere Chance, als zu beobachten, und sie dann ans Messer zu liefern in einem geheimen Weblog. „Neenee, Artikelteilen muss nicht sein“, raunte ich mir selbst zu, „lass uns das alles schön im V.I.P.-Saustall unterbringen“.

So formierte sich in Gedanken nach und nach das Bild vom V.I.P.-Strudel, vielleicht ist es auch ein Schwarzes Loch von ungeheurer Anziehungskraft. Alles, was in seine Nähe kommt, wird unweigerlich angesaugt und verschwindet für immer in einer vollkommen verschlonzten, hochgestochenen Welt. „Ja. So muss es sein: da vorne treibt der Ministerpräsident, flankiert von Security, gefolgt von Frau von B., Amtsleiter R., dem OB und all dem anderen Gesindel“.

Später lümmelte ich auf dem Innenhof zwischen Catering-Zelt und Veranstaltungshalle. Die Türen zur Halle sind vier Meter hohe schwere Stahlgeschosse, die sich ohnehin nicht gut öffnen lassen. Klomann F. M. und sein zehnjähriger Sohn kamen heraus, ihnen entgegen eine Frau, beide Hände voller Essen. Klomann F.M. ging zurück zur Tür, öffnete sie. Sein Sohn rief mich an: „Was für ein Schleimer.“ Mit dem Daumen deutete er nach Hinten. Er schämt sich für seinen Vater wie so viele Kinder in diesem Alter. „Traurig, dass du das so siehst,“ belehrte ich ihn, „dein Vater hat die Frau gesehen und gemerkt, dass sie alleine die Tür nicht aufkriegt. Das ist das, was ich gesehen habe.“

Okay, Klomann F. M. ist drin im Blogeintarg. Fehlt eigentlich nur noch Iris. Das ist schnell erzählt. Die quirlige Blondine smalltalkte mit dem Manager von Jacques L. und gab zum Besten, dass sie gerne heiraten wolle, einen gewissen Ramirez, weil dann ihr Name so schön klänge, Iris Ramirez. (Sie erzählte auch von einer Freundin namens Martina, die einen gewissen Martinez geheiratet hat). „Wenn du bloß Lina heißen würdest“, unterbrach ich den Smalltalk, „dann könntest du mich ja heiraten. Lina Link iss doch gut“. Da lachte sie herzlich und versprach mir, sich umtaufen zu lassen.

Erläuterung: Sau Wichtiche Leit = Sau Wichtige Leute, also Very Important Persons

Nun habe ich, eine Woche nach dem Jazzfest, noch eine Geschichte aus der rauen See des Vergessens gerettet. Ein kleines Wunder.

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