Jagd nach Freikarten

Gestern. Ein Tag voller Geschichten. Das lederbezogene Notizbuch hat einige Seiten mehr. Als Künstlerbetreuer auf dem Jazzfest ist reichlich Zeit, sich in eine Ecke zu stellen und die Szene zu beobachten. Um die Langeweile zu dimmen, denke ich derweil nach. Vor meinen Augen spult der bizarre Backstagefilm, Musikdiven, weltberühmte Jazzikonen, die Mitarbeiter von Rundfunk, Licht- und Ton-Technik, sowie jene eine Frau, die immer um kurz vor 18 Uhr, wenn noch keine Türbewachung aufgestellt ist, den Saal betritt, zielstrebig auf die erste Reihe, Mitte zuläuft und sich auf einen der beiden besten Plätze im Konzertraum setzt. Dort wartet sie zweieinhalb Stunden auf den Konzertbeginn; vermutlich beobachtet sie die Szene genau wie ich und ich bin nur eine Figur in ihrem persönlichen Backstage-Theater. Ist sie eine Bloggerin? Ich bin vermutlich der Einzige, der sie bemerkt und weiß, dass sie sich den Eintritt, der immerhin knapp 20 Euro pro Abend kostet, auf diese Weise erschnorrt. Ich sage niemandem etwas. Ich mag die Frau, dunkle, lockige Haare, mager, der man ansieht, dass sie nicht viel Geld für Kleider hat und auch seltener zum Frisör geht, als andere Frauen Mitte Fünfzig.

Gestern war das Haus ausverkauft. Gut 800 Gäste lauschten der Frauen-Jazzcombo R. die der weltberühmte Jazzer Nils L. auf die Beine gestellt hat. Außerdem bot die Ur-Ur-Enkelin des russischen Literaten Leo T. mit ihrer Band eine wunderbare Jazz-Gesangsshow. Die T. tauchte auf gegen 18 Uhr, kurz nachdem die Frau der ersten Reihe den Saal betreten hatte, lief, ohne mich eines Blickes zu würdigen an mir vorbei auf die Bühne. Erst als sie erfuhr, dass ich für ihr leibliches Wohl garantieren würde, gab sie mir die Hand und sagte: „Hallo, my Name is V.“ Ihr würde ich in hundert Jahren keinen Wasserkocher (siehe einige Artikel zuvor) besorgen.

Was bin ich anderes, als ein schmutziger, unwürdiger Backstagewauwau. Dies ist das Kastensystem der westlich zivilisierten Showgesellschaft: die oberste Kaste sind die Bühnenkünstler. Dann die Kaste der Fernseh- und Rundfunkleute, sodann die Techniker-Kaste … nun kommt lange lange nichts, um schließlich bei der untersten Kaste, der Kaste der Backstagehelfer anzulangen. Meine Kaste!

Zurück zur Dame aus Reihe 1: Gestern war ich ein bisschen besorgt, dass zu Konzertbeginn genau ein Mensch kein Sitzplatz kriegt. Nämlich derjenige, auf dessen Platz sie sitzt (da sie in der ersten Reihe sitzt, kann das eigentlich nur der Oberbürgermeister sein, freute ich mich innerlich). Ich spekulierte auf die vielen anderen Lücken im System, kalkulierte eine Schar von mindestens 50 stehenden Gästen, da die Halle noch mehr Löcher hat und es weit dreistere Menschen gibt, die sich auf ganz andere Weise Zugang verschaffen. Ich behielt recht.

Gegen 22 Uhr stand ich mit Journalist F. erzählend vor der Tür. Eine Frau sprach uns an: „Ich komme von der Spätschicht. Habe keine Karte. Ob ich da noch rein komme?“ Journalist F., der die letzten Jahre das Fest organisiert hat und heuer privater Gast ist, verwies sie an die Kasse, im Glauben, dass die sie sicher noch rein lassen würden. Keine Minute später, ich sagte gerade zu Journalist F., „wenn sie sie nicht rein lassen, darf ich sie durch den Bühneneingang reinschleisen?“, lief die Frau enttäuscht zuurück zum Auto. Journalist F. hielt sie an. „Sie wollten mir eine Karte verkaufen, voller Eintrittspreis, dabei ist die Show schon mehr als zur Hälfte um …“ „Sind sie Krankenschwester?“ fragte Journalist F. „Woher wissen sie?“ Journalist F. hat zur Zeit leider Gottes viel mit Krankenschwestern zu tun und erkennt sie auf den ersten Blick. Kurz und gut. Der Mann kann Krankenschwestern keinen Wunsch abschlagen, nahm die Frau bei der Hand und führte sie, ohne dass sie auch nur einen Pfennig bezahlen musste durch den Kassenbereich, vorbei an seinen missgünstig schauenden Kollegen.

Ende der Geschichte. Eigentlich sollte in diesem Beitrag ja stehen, ich habe gestern so viele kleine Geschichten erlebt, dass ich nicht weiß, weder welche ich zuerst aufschreibe, noch ob ich sie alle schaffe.

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