Die Nullstäbe der Gesellschaft

Irgendwann wird die Wahrheit über Konzeptkünstler R. ans Licht kommen. Warum taucht er sporadisch in meinem Leben auf? Auf welch bizarre Weise lernte ich ihn kennen? Welche Entwicklung macht er durch? Ist er derzeit Unternehmensberater, so scheint es fast unlogisch, dass er einmal eine Art Pennerdasein geführt hat, dass er die Welt durchquerte und Abenteuer erlebte und wie ein Stück Treibgut mal hier, mal da in einem Strudel kreiste, sich befreite, weiter schwamm. Dass er ankommt und geht, wie das Leben es ihm diktiert.

Einer meiner wichtigsten Berater. Moderner Mystiker. Wirtschaftsweiser und großer Lehrer in Sachen Überlebenstechnik.

„Paktiere nicht mit dem Teufel“, riet er einst.

„Es gibt weder Gott, noch Teufel“, erwiderte ich.

„Doch, die gibt es. Es gibt sie zu Hauf in dieser Welt. Sie treten in Menschengestalt auf. Man muss sie sich vorstellen wie statische Stäbe in einem Fachwerk, die die Lasten der Gesellschaft in den Untergrund leiten und für die Tragfähigkeit dieser Gesellschaft sorgen. Du kannst sowohl Teufel, als auch Gott sein. Es ist deine freie Entscheidung.“

„Du meinst Gut und Böse?“

„So ähnlich. Nennen wir es besser rechtschaffen und verdorben; vorwärts und rückwärts, ja und nein. Wovon ich rede: Kraftrichtungen. Wenn man die Welt reduziert und ihre Funktionsweise zu analysieren versteht, gibt es letztendlich nur Gegenläufigkeit. Sieh die Brücke …“, R. zeigte in Richtung einer alten Eisenbahnbrücke, ist schon Jahre her, ein stillgelegtes eisernes Teil in Bayiern, welches aus hunderten von Metallstäben zusammengenietet war und schon unzählige Tonnen Fracht und Menschen über den Inn hat fahren lassen. Wieso wir da waren, und warum wir uns, an Seile gebunden im Pendelschwung hinunter stürzten, sei hier nicht wichtig. Vielleicht erzähle ich einmal mehr davon. Wichtig ist die Brücke, „… die ist wie die menschliche Gesellschaft. Es gibt negative Kräfte, bei denen die Fachwerkstäbe auf Zug beansprucht werden, also an beiden Enden gezogen wird und der Stab sich dehnt. Und es gibt positive Kräfte, die die Stäbe zusammendrücken. Beide sind wichtig, damit die Brücke nicht zusammenbricht.“

„Es gibt auch Nullstäbe, die gar keine Last aufnehmen“, gab ich nassforsch zum Besten, „die könnte man doch einfach entfernen und nichts würde passieren“.

„Theoretisch ja. Aber nur, wenn sich an der Brücke die Kräfte nicht ändern. Sobald ein Zug darüber fährt, oder ein Orkan bläst, mutieren Zug zu Druck und Null zu Zug oder Druck. Je nach Situation. Wenn du das Bild auf die menschliche Gesellschaft überträgst, die ja auch von sich ändernden Kräften durchzogen wird, hast du ein prima Modell, wie sie funktioniert. Was ich sagen will: deine Mitmenschen treten dir entweder wohlgesonnen oder abgeneigt gegenüber. Am Gefährlichsten sind die Neutralen, die Nullstäbe der Gesellschaft. Sie können von Jetzt auf Jetzt ihre Neigung ändern. Das ist der Teufel, vor dem ich dich warne.“

Gestern begegnete ich dem Teufel. Veranstaltungsmacher Ro. stand in Mitbewerberschaft zu meinem lieben Owner. Zwischen Posaunentuten und Flötengequietsche des Jazzfestivals schwadronierten wir über die leidige Insolvenz. Ro. ließ kein gutes Haar am Owner. Geradezu plump beleidigend, offenbarte er mir, dem frisch gescheiterten Mitarbeiter seiner Konkurenz, wie böse, unlauter und hinterhältig der Owner gewesen sei und machte sofort ein vages Tackerangebot, denn die Möbel, die wir gebaut haben sind eine heiß begehrte Ware. Er habe eine eigene Werkstatt, Schreinerei, pi, pa und po.

Das ließ mein Tackerherz höher schlagen.

Aber Veranstaltungsmacher Ro. ist nicht lupenrein. Das sagt mir mein Gefühl. Der Owner ist tausendmal besser. Der Owner ist nur ein getriebener, den Unbilden des Wirtschaftsmahlstroms Unterliegender. Ein Mensch mit gutem Kern, der die Fehler machen musste, die er gemacht hat und der keine andere Wahl hatte zu handeln. Ro. habe ich im Verdacht, nach Belieben handeln zu können. Er scheint mir ein Nullstab zu sein..

Wir kamen überein, in der kommenden Woche zwischen Gitarrengeschrabbel und Trommelgewirbel, wenn um uns das Jazzfest tobt, noch einmal über die Tackeroption zu reden.

„Hüte dich vor dem Teufel“, klingt des Konzeptkünstlers Stimme. Und: „Wenn du eine Frage mit Ja oder Nein beantworten kannst, sag‘ Nein“, empfiehlt Flann O’Brien.

So werde ich es tun. Ich hoffe, Ro. begegnet mir nicht mehr.

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