00:00, Dörfchen K. Winterlinde

„Beim Schwanzvergleich habe ich noch immer den Kürzeren gezogen“, dachte ich heute Morgen. Schmunzelnd kritzelte ich das Wort auf Papier. Die Eigenbespaßung mit skurrilen bis unverständlichen Witzen erlebt dieser Tage Hochkonjunktur. Nicht zuletzt der herzlich rauhe Umgang in der Tackerwerkstatt trägt dazu bei. Dabei hätte ich genug ernste Themen auf Lager, über die ich gerne schreiben würde: über Chronos und Kairos zum Beispiel und was ich aus diesen alten griechischen Göttern gemacht habe in den letzten Wochen:

Zufällig ist mein Fahrradtacho an der Winterlinde in K. abgestürzt, zeigte plötzlich nichts mehr an, so dass ich die Batterie herausnahm, für ne Sekunde kann ja nicht schaden, aber als ich das Ding reaktivierte, war alles gelöscht. Die über 8000 km, die Grundeinstellung für den Radumfang, und auch die Uhrzeit. Null Uhr Null an der Winterlinde zu K.. Notdürftig justierte ich den Radumfang, so dass meine Höchstgeschwindigkeit seither bei 5,3, naja, sagen wir mal Kilometern pro Stunde liegt. Das ist ne ganze Menge. Aber von Kilometern pro Stunde kann ich nun nicht mehr reden, sondern es sind zufällig entstandene Einheiten. Genau wie die Zeit. Die Einheiten der neuen Uhr sind zwar immer noch Stunde und Minute, aber bei mir ist nunmal morgens um Viertel nach Acht an der Winterlinde nicht Viertel nach Acht, sondern Null Uhr.

Das fasziniert mich. Anfangs hat es mich geärgert, dass ich keine Kilometerleistung mehr sammeln kann auf dem Fahrradcomputer. Am Tag kommen höchstens drei Kilometer zusammen, statt wie in herkömmlicher Messung etwa 30.

Ich könnte nun einen Umrechnungskoeffizienten einführen, um wieder synchron mit Zeit und Raum zu gehen. Aber die vielen Male, die ich schon den Arbeitsweg geradelt bin seither, haben nicht gereicht, um das zu tun. Ich war einfach zu faul, mir das auszurechnen. Ich habe auch keinen Anlass. Ich habe noch nicht einmal Anlass, das Gerät ständig zu betrachten und zu schauen, ob ich schneller oder langsamer bin als ein paar Tage zuvor.

Trotzdem gibt es einen gewissen Drang zum Vergleich, zum Schwingen im allgemeinen Takt. Dabei ist es noch gar nicht so viele Jahrhunderte her, dass in jedem Dorf eine andere Uhrzeit herrschte. Damals war die Welt noch nicht globalisiert und man war auch nicht darauf angewiesen, im Takt zu schwingen.

Mit meinen morgendlichen und abendlichen Arbeitswegsradeleien ist mir schließlich bewusst geworden, wie sehr wir Menschen nach Maßstäben gehen, wie wichtig es uns ist, zu vergleichen, zu werten, genau zu sein, und im gleichen Atemzug wurde mir klar, wie gefährlich, wie destruktiv das alles ist. Das ist ein Gefühl, das ich momentan noch nicht in Worte fassen kann. Unser Messen ist unser Untergang.

Gestern auf dem Nachhauseweg sah ich einen Mann, der in großen Schritten an einer Baulücke entlang lief. Am Ende blieb er stehen und schrieb etwas auf einen Zettel. „Aha, er misst, wieviele Meter das Grundstück lang ist“, dachte ich leichtfertig, „nee, Quatsch, er denkt, er misst, wieviele Meter das Grundstück lang ist, aber in Wirklichkeit misst er, wieviele Schritte das Grundstück lang ist, und zwar seine eigenen Schritte“.

Nachtrag: die Winterlinde ist Baum Nummer 76. Die Kreisstadt H. hat die schönsten alten Bäume auf dem Stadtgebiet mit Messingschildern versehen und durchnummeriert.

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