Kulturmasochist und Omegakünstler

Die Zettelkastenkritzeleien häufen sich. Als ob es nichts zu berichten gäbe. Seit Tagen gärt ein Bericht über die verheerende Halloween-Nacht, jüngstens in einer der führenden Kneipen der Stadt. Mann-mann-mann, alles schwarz von Gothictypen, entsprechend die Musik. Ein Abend nach meinem Geschmack. Ich mutiere zum Kulturmasochisten.

Kulturmasochisten sind Menschen, die Freude daran haben, schreckliche Veranstaltungen zu besuchen und sich an den Peinlichkeiten zu ergötzen. Besagter Gothic-Abend reiht sich ein in eine Kette seltsamer Veranstaltungen, die ich in den letzten Wochen besucht habe.

Untopbar war sicher eine Ausstellungseröffnung im Nachbarstädtchen bei Eiseskälte auf dem Marktplatz. Mit Rundfunkmoderator, Bürgermeister im Wahlkampf, einem bunt zusammen gewürfelten Haufen von Künstlern. Die Honoratioren hatten mit einer Bühne den Eingang zum Cateringraum versperrt, aufdass auch keiner reinkommt, bevor sie ihre Reden gehalten haben. So schrumpfte das Publikum binnen einer eiskalten Stunde von knapp 100 auf gut 30 Gäste. Weiß nicht, wie ich das überleben konnte, um mich später bei Bier und Bretzel in der örtlichen Bibliothek (da war das Catering aufgebaut) schadlos zu halten.

Ich war sogar bis zum finalen Abgesang dort. Und der belohnte den Kulturmasochisten aufs Edelste: der OB im Wahlkampf saß breitbeinig in dem kleinen Salon der Bibliothek, hatte sämtliche Alphakünstler um sich geschart und gab Possen aus Kultur und Politik zum Besten. Als Alphakünstler sollte man OBs gut zuhören und ihnen nach dem Mund reden, sonst ist es ruckzuck vorbei mit dem Alphakünstlerdasein. Omegakünstler (ich) und Kulturmasochisten (auch ich) haben es da leichter. Gelassen können sie sich ein Bier nach dem anderen aufziehen und die Taschen voller Bretzeln und Brötchen stopfen, einen Ruf hat man ja weder zu verlieren noch zu gewinnen – man ist desperat in höchster Vollkommenheit. Leichtes Spiel also mit der etwas älteren blonden Frau direkt neben mir. Wie in der Schule, begann ich ein Schwätzchen, während der OB über Baurecht und sonstiges schwadronierte. „Pssst“, sagte ich. Sie reagierte nicht.

„Pssst, wie heißt du?“

„Ich bin Frau X.,“ raunte sie abweisend.

Soviel Kälte, tss. Gibts doch nicht, ich trage saubere Kleider, bin nicht betrunken, habe mich schöngeschniegelt und frisiert … tss.

Plötzlich richtete der OB im Wahlkampf das Wort an sie: „Was meinen sie als Marketingchefin dazu?“

Mmmh, achso, die ist also beruflich verpflichtet zuzuhören und Gutwetter zu reden, wenn sie gefragt wird, da kann sie ja nicht mit desperaten Kulturmasochisten reden.

Der Abend ging dahin. Langsam wurde es mir zu schmerzhaft mit dem Kulturmasochismus. Heimfahren war aber auch nicht. Der OB und ich haben nämlich den selben Heimweg. In seinem Zustand, könnte er mich eventuell überfahren, wenn ich mit dem Fahrrad die einsame Landstraße nach Hause radele.

Nur um mein Leben zu retten, litt ich weiter.

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