Blacky

Blacky kam mit einer akuten Leber. Das ist zwanzig Jahre her. Er ist bestimmt tot. Heute wäre er wohl sechzig. Bei Säufern ist es nicht einfach, das Alter zu schätzen. Sie hatten ihn auf Station Drei untergebracht in dem Krankenhaus, in dem ich meinen Zivildienst leistete. Station Drei war keine gute Wahl. Sie lag zwar im dritten Stock, aber das niedrigere Nebengebäude der Küche und Verwaltung war angebaut, so dass man durch die Fenster auf das Flachdach über der Küche steigen konnte und über eine Stahlleiter unbemerkt das Krankenhaus verlassen konnte. An den lauen Abenden im Sommer ’88 kletterte Blacky immer hinunter zu seinem Schnapsversteck. Der Stationsarzt wunderte sich, warum sich die Leberwerte nicht besserten.

Eines Tages begehrte Blacky nach irgendwas – ich glaube Drogen – aus seiner Wohnung in einem kleinen Dorf ein paar Kilometer von dem Krankenhaus entfernt. Dort konnte er in seinem Zustand nachts nicht hinlaufen, also fragte er meinen Zivi-Leidensgenossen Bruno, ob er ihm die Sache besorgen könne. Bruno sagte ja, aber weil er nicht lebensmüde war, fragte er mich, ob ich mitkomme: „Du musst mir ein Seil um den Bauch binden, falls ich ohnmächtig werde in Blackys Bude, damit du mich rausziehen kannst.“ Ich stellte mir Blackys Bude als die Hölle vor.

Er lebte in einem Kuhstall mit feuchten Sandsteinwänden. Die Löcher, durch die einst Kühe starrten waren mit Plastikfolie verklebt. Bruno hatte übertrieben mit dem Seil und dem Gestank, es war ihm einfach zu blöd, alleine durch die Gegend zu fahren. Also ließen wir die Sache mit dem Seil um den Bauch sein. Vielleicht wollte Bruno nur einen Zeitzeugen – mich – der dokumentiert, wie es in Blackys Wohnung aussieht? Eine speckige Matratze lag auf dem Boden. Der Lichtschalter funktionierte nicht, weil Blacky sich keinen Strom leisten konnte. Überall standen Kerzen, die er offensichtlich vom Friedhof hatte mitgehen lassen. Wachs auf den Holzregalen und Ruß an der Decke, die Spühle voller Geschirr, eine halbe Pizza faulte auf einem kniehohen Tisch, Spinnweben in den Ecken, Pornohefte auf dem Boden, in der Tiefe des Raums, wo das Licht am Schwächsten war, stand ein kleiner Tisch mit leeren Jägermeisterflaschen und darüber hing eine Korktafel mit Spritzen. „Ist er heroinsüchtig?“ fragte ich. „Er hat Zucker,“ sagte Bruno. Die Decke kaum zwei Meter hoch. Muffiger Geruch in der Luft, ein Eimer, der sich als Klo entuppte stand in der Ecke. Da weinte ich, weil ich nie im Leben zuvor einen Menschen wie Blacky erlebt hatte und mir plötzlich klar wurde, dass es viele seiner Art gibt, dass sie in dunklen Löchern leben, die keiner bewohnen will und dass sie auf gewisse Weise glücklich sind – ich meine, eigentlich sind sie unglücklich, aber in ihrem Unglück sprudeln Blasen des Glücks, meist durch Rausch hervorgerufen und deshalb müssen sie weiter weiter weiter auf dem falschen Weg.

Nun da ich dies schreibe, ist mir klar, dass wir alle unter ähnlichen Bedingungen starten im Leben, aber schon gleich nach der Geburt wird unser Leben mal so mal so kanalisiert. Man muss ein Höllenglück haben, ein halbwegs gutes Leben führen zu können.

Welcher Name wohl auf Blackys Grabstein steht? Bruno weiß es.

5 Antworten auf „Blacky“

  1. Danke für den Text. Man denkt an soviele Sachen..aber sowas landet oft in einer der kleinsten und hintersten Schubladen. Oh man. Ich ärger mich über Kleinigkeiten..darüber ob der Spiegel besser „rund“ oder doch „eckig“ sein soll..und dabei gibt es ganz andere wichtige Geschichten.
    Dein Text ist großartig..genau diese kleinen Texte liebe ich :)

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