Straße nach Gibraltar 011

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Mittwoch, 19. April 2000, Dijon oder: wie man mit dem Fahrrad große Städte durchquert

Es liegt auf der Hand, dass man als Radler in großen Städten mehr oder weniger auf verlorenem Posten steht, vor allem in Frankreich. Die einzige Ausnahme auf der Welt dürfte Amsterdam sein, ein Paradies für Radler, mehr noch, Radler besitzen dort alle Macht der Erde. Nicht so in Dijon. Auf der stark befahrenen D 28 überquerte ich bei Ruffey den äußeren Stadtring, nichtsahnend, welche Hatz und Hektik mich in Dijon erwarten würde. Bei einem Supermarkt kaufte ich Lebensmittel, ein neues Tagebuch und die Michelinkarte Nummer 69, durch welche mich die nächsten beiden Tage mein Weg führen sollte. Ich folgte den Schildern Richtung Centre Ville, denn das ist stets meine Taktik bei der Durchquerung von Städten. Ich betrachte sie als Knoten, wobei die einzelnen Straßen ein willkürlich verknüpftes Gewirre darstellen. Der Gordische Knoten des Verkehrswesens lag in Form von Dijon vor mir. Ein Ende des Seils war die D 28, das andere der Canal de Bourgogne. Inbegriff des Südens, die Pforte ins Glück. Dort würde die Sonne lachen und das Radeln nur so eine Freude sein. Mein einfaches Stadtdurchquerungskredo lautete: Richtung Centre Ville, bis keine Centre Ville Schilder mehr zu sehen sind. Dann befände man sich logischer Weise im Zentrum. Der Kern des Knotens. Dort müsste ich nur noch die Richtung nach Draußen finden.

Bei einem Bankautomaten stoppte ich, denn meine Barvorräte waren bis auf 150 Franc verbraucht (ca. 20 Euro). Ich muss wohl ziemlich abgerissen gewirkt haben, denn die Passanten beäugten mich argwöhnisch: „Was will der? Den Automaten knacken, oder was?“ Ich zückte meinen Geldbeutel, fummelte nach der Kreditkarte, doch da war sie nicht. Im Pack-Chaos zu Hause musste ich sie wohl in irgendeine meiner Packtaschen geworfen haben. Zunächst durchforstete ich die Fronttasche, dort waren fein säuberlich in einem Umschlag Reiseschecks (mein Rettungsanker für die Rückreise) im Wert von 500 DM (250 Euro). Gut möglich, dass sich darin auch die Kreditkarte befände. Fehlanzeige. Ich filzte den Kulturbeutel und weitere Orte, an denen sich kleine Gegenstände wie Kreditkarten verstecken könnten. Ohne Erfolg. Langsam dämmerte mir, dass ich die Kreditkarte womöglich verloren haben könnte. Das wäre fatal. Nicht auszudenken, wer in der Zwischenzeit mein Konto geplündert haben könnte. Um sicher zu gehen, breitete ich sämtliches Hab und Gut auf dem Gehweg aus, zerlegte den Kocher, entrollte den Schlafsack, schüttelte das Zelt aus. Wie eine Explosionszeichnung lag nun mein gesamter Haushalt auf einer großen Straße in Dijon vor einem Geldautomaten. Das Fahrrad lehnte an einer Laterne. Die Passanten beäugten mich verwundert, doch das machte mir nichts aus. Ich wollte nur wissen, wo meine Kreditkarte ist. Nachdem ich alles mehrfach gecheckt hatte, war klar, die Karte ist irgendwo, nur nicht hier. Ich erinnerte mich, dass ich sie vor der Abreise auf den Fußboden geworfen hatte, dort wo sie hingehörte, zu allen für die Reise wichtigen Dingen. Sollte mir im verkaterten Zustand des Packens am Reisebeginn etwas entgangen sein?

Mittlerweile war es nach 18 Uhr. Hatte ich ursprünglich die Absicht, Dijon noch an diesem Tag zu verlassen, änderte ich nun meinen Plan und fuhr hinüber zum Campingplatz Dijon Talant. Dort würde ich nach Hause telefonieren, die Kreditkarte sperren und entscheiden, ob es überhaupt Sinn macht, die Tour fort zu setzen, mit nunmehr nur noch 500 DM in der Tasche.

Unterwegs durch die wunderschöne Altstadt murmelte ich einen Spruch, aus Jack Kerouacs On The Road: „Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer.“

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