Kehl Le Mittagshitz

Wie viele Bäcker gibt es auf der Welt, wie viele Reisbauern, Bauarbeiter, IT-Spezialisten, Topmanager, wie viele Bettler, Straßenhändler, Schlawiner? Jetzt in diesem Moment? Wie viele Menschen wie du und ich?

Am Morgen am Rhein-Marne-Kanal diagnostiziere ich einen Zeitkonflikt. Das Zelt steht im Schatten eines kleinen Buschs, die Morgensonne hebt sich aus dem Dunst. Ich bin elend müde. Erschöpft ist ein besserer Ausdruck. Die Hitze lässt den nutzbaren Teil des Tages auf ein Minimum schrumpfen. Mittags radfahren? Verrückt. Schlafen? Den Insekten bist du ein willkommenes Opfer. Sie trinken deinen Schweiß. Kill the beast, spill it’s blood … ein Saul Williams-Song kommt mir in den Sinn, in dem der Musiker rhythmisch, beinahe hypnotisch, diese Zeilen aus Lord Of The Flies zitiert. Auch das Schreiben will um die Mittagszeit nicht so ganz gelingen, zum einen, weil die Insekten nicht nur Schlafende, sondern auch Schreibende oder Sonstwastuende quälen, zum anderen ist das Hirn nur noch ein matschiges Etwas aus Eiweiß, das nutzlos unter der Schädeldecke wabbelt.

Ich bin alles andere als gut drauf an diesem dritten Tag. Stelle das Projekt in Frage, mich selbst, die Kunst, die Ewigkeit. Was letztlich bleibt, ist doch der Fetzen Gegenwart, den man als denkendes, fühlendes Wesen wahrnimmt. In dieser Welt ein paar Stunden vor dem Jetzt, das Jetzt selbst und ein paar Stunden danach. Langstreckendenkende können die Zeitspanne beliebig erweitern. Mein Jetzt ist nicht gerade glücklich. Bei Brumath ist der schöne Kanalradweg zu Ende. Bis dahin konnte ich in regelmäßigen Abständen das T-Shirt ins Wasser werfen, es ausquetschen, klatschnass wieder anziehen, aber plötzlich muss ich einer Umleitung folgen, hinein nach Brumath, wo ich in einer überhitzten Bäckerei ein Sandwich kaufe, ein Stück Pizza und ein Schokocroissant, welche ich mitschleppe entlang der elend staubigen Nationalstraße, auf der Hunderte von Autos fahren, Dieselrußgestank und kein Baum, der Schatten wirft, geschweige denn ein lauschiges Plätzchen zum Rasten. Diese verflixte Bahnlinienbaustelle! Kilometerweit läuft sie scheinbar parallel zum Kanal, so dass der Radweg unpassierbar wurde.

Erst bei Vendenheim kommt die schlecht beschilderte Umleitung zurück auf den Kanalradweg, der schnurstracks hineinführt in die Europametropole Straßburg. Beim Parlament verliert sich der Kanalradweg. Eine Passantin macht freundlicherweise ein Bild von mir direkt vor dem schiffsähnlichen Monsterbauwerk, das auf einer Insel zwischen Kanälen zu liegen scheint. Wasserburg der Moderne. In der Nähe stehen viele kleine Zelte in den Parks, eine Protestaktion, erklärt die Passantin, für den Europarat, dessen Gebäude ganz in der Nähe der Tramstation Platz der Menschenrechte liegt. Straßburg hat etwas venedigesques, durchzogen von Kanälen und garniert mit Brücken. Dazu Fachwerkhäuser soweit das Auge reicht. Auf dem Gehweg ist grün das Wahrzeichen der Stadt gesprayt mit Minutenangaben daneben – zehn Minuten zu Fuß bis zum Münster. Natürlich darf ich mir, als alter Jakobspilger, dieses imposante Bauwerk nicht entgehen lassen. Auf dem Platz rings um das Münster sowie in den Gassen der Altstadt wimmelt es von Touristen. Alle Sprachen der Welt. Wie Wespen, die um ein Stück Schinken schwirren, tummeln sich die Menschen um eine verchromte Säule mit der Aufschrift Eau Potable. Jeder will hier seine Trinkflasche füllen. Ein etwa dreijähriger Bub, dem das Auffangbecken des Brünnleins bis zum Kinn reicht, will direkt daraus saufen, aber die Zigeunerin, die mir gnädigerweise den Druckknopf festhält, damit das Wasser permanent fließt, verscheucht das Kind. Immerhin sammeln sich in dem Becken alle möglichen Schuppen, Bakterien, Überreste von den Menschenhänden, die zwangsläufig mit dem Wasser beim Befüllen in Berührung kommen.

Straßenmusiker aller Nationen: afrikanisch neben der Schicksalsmelodie neben Que Sera Sera neben dem Flug des Condor auf Panflöte neben einem erbärmlich verstimmten Geiger. Wie viele Straßenmusiker gibt es in der Stadt? Mitten auf einer Hauptstraße läuft ein bärtiger kleiner Mann mit Jacke und speckiger Hose und hält einen Plastikbecher in alle offenen Autoscheiben, egal, ob die Ampel grünt oder nicht. Er hat ja nichts zu verlieren. Wie viele Bettler? Ich schiebe das Radel zur Seite, weil es ein bisschen heikel ist, mitten im strömenden Verkehr den Geldbeutel rauszupfriemeln und ihm einen Euro in den Becher zu werfen. Weiter weiter weiter. Wie viele Menschen wie du und ich? Kann man die Welt hochrechnen und, sagen wir mal, wenn man alles Menschenvolk in einer Kleinstadt zählt, fünf Bettler, drei Bäcker, ein Massenmörder, zehn Du-und-ichs, pro fünftausend Personen, kann man das auf zehn Milliarden umrechnen? Eigentlich hätte Strasbourg, wie auch Saverne am Vortag, ein richtig gutes Portrait verdient. Aber bei der Hitze …!

Ich verirre mich, muss immer wieder das Fon rauskramen, um die Radwege zu lokalisieren, merke mir zwei markante Punkte, den Etoile und Aristide Briand, nach denen ich die Passanten frage, gelange irgendwie in Richtung Kehl/Offenburg meist auf Autostraßen. Das deckt sich nun so gar nicht mehr mit dem Bild, das ich einst von Straßburg hatte: dass man per Radel einfach so durchkommt, ohne Karte, ohne alles. Aber damals, vor ganz vielen Jahren, habe ich auch keinen Abstecher gemacht in die touristischen Innereien. Beim Parc des deux Rives, dem Park der zwei Flussseiten, der sich von Strasbourg über eine elegante Fußgängerbrücke wie ein riesiges Ei auf beiden Flussseiten erstreckt, wird es endlich ruhiger. Flusskilometer 293. Wunderbare Anlagen diesseits und jenseits der Grenze, des Rheins. Kehl-le-Mittagshitz. Bei einem Rewe-Markt kaufe ich Kühles. Die Nerven liegen allerorts blank: an der Kasse, auf dem Parkplatz, an Straßenkreuzungen, selbst auf dem Radweg kommen einem unentspannte Reviermarkierer entgegen, die jedes nur geringfügige Überschreiten der Mittellinie – ja, mein Gott, das kann doch mal vorkommen, das man in die Welt starrend auf die Gegenspur gelangt – mit scharfen, ich will keine verbal tödlichen Äußerungen kommentieren. Anyway.

Ab Willstätt stehe ich plötzlich wieder auf einem Deichradweg, der entlang der Kinzig, oder dessen, was davon noch übrig ist, bis nach Offenburg führt. Der Weg beginnt offenbar schon in Mannheim, führt über Kehl nach Offenburg und von da das Kinzigtal hinauf. Gemütlichkeit ist angesagt. Offenburg durchquert sich wie im Schlaf. Ein kleiner Park und Festungsmauern und wunderschöne alte Gebäude machen Lust auf mehr, aber es ist schon spät und ich muss bald einen Lagerplatz finden. Immer dem meist gut beschilderten Kinzigtalradweg folgend, werde ich schließlich fündig und baue mein Zelt jenseits des Hochwasserdeichs direkt am Fluss auf. Sogar Baden funktioniert, obschon ich mich erst ein paar Meter durch kniehohe Pflanzen wühlen muss, um bei einem kleinen Strauch in den streng kanalisierten Fluss zu gelangen.
(Notdürftig unterwegs von Fipptehlern beneirigt :-) )
(entfippthelert by Homebase, 21:12; Tag 3)