Wir sperren sie zu den Anderen

Samstag, Künstlergruppe Prisma. Herr Irgendlink betreut die Galerie in der Zweibrücker Innenstadt gemeinsam mit Kunstkollegin D. Zur Erinnerung: die Künstlergruppe hatte Herrn Irgendlink während seiner Abwesendheit – ungefähr, als er Schottland mit dem Radel durchquerte, adoptiert. Gruppeninitiator P. hatte sich mittels Ersatzschlüssel Zugang zum irgendlink’schen Atelier verschafft, eine Kiste Bilder eingepackt und sie bei der Gründungsvernissage der Gruppe aufgehängt. Herr Irgendlink sendete auf alle Fragen, die er auf elektronischem Wege aufs das Mobiltelefon erhielt die Standard-Message „Die Antwort ist Ja“. Auch auf die Frage, „willst du Prismamitglied werden?“
Ach Kunstbübchen, mein Kunstbübchen, und nu hockste da, samstags um pervers zehn Uhr früh gegenüber einer völlig verkaterten Kunstkollegin D., kriegst selber kaum die Augen auf, keine Lust auf Kommunikation. Mürrisch. Gegenüber der Galerie ist eine der alteingesessensten Bäckereien der Stadt. Aus dem Galerieschaufenster hat man einen prima Blick in den Verkaufsraum. Wer was hält auf sich in der Stadt, der kauft dort seine Brötchen. Autos fahren an, Menschen raus, rein in den Bäckerladen, mit Tüten bepackt wieder raus. Die Regale mit den Auslagen leeren sich zusehends. Eines jener Wochenende, die den Menschen auf schmerzliche Weise suggerieren, dass es nie nie nie wieder etwas zu kaufen geben wird, wenn jetzt die Läden schließen. Immer wenn Gäste die Galerie betreten, raune ich Kollegin D. zu: „Wir sperren sie zu den Anderen.“ Der Spruch wird zum Running Gag. In unserer Phantasie entsteht ein riesiges Verließ unter den ehrwürdigen Galerieräumen, in dem sich nach und nach alle Kunstinteressierten der Stadt wieder finden. Und ich erzähle von dem englischen Spielfilm mit dem deutschen Titel „Hot Fuzz“ aus dem Jahr 200X, 2007 wahrscheinlich, in dem die Bürgerwehr eines kleinen englischen Städtchens alle, die auch nur irgend den Frieden des Idylls am Meer stören könnten, radikal umbringen. So gibt es auch ein Verließ, in dem die reisenden Bettler, die sich als lebende Statuen auf den Straßen präsentieren, gefangen gehalten werden. Napoleon neben Macbeth, Hamlet, allesamt weiß getünchte, hoffnungslose Kerle, wie man sie eben so sieht in den Fußgängerzonen dieser Tage.
Mittlerweile ist Kunstgruppenmitglied B. eingetroffen und natürlich habe ich sie begrüßt mit den Worten, „Wir sperren sie zu den Anderen.“ Ein älteres Paar betritt den Raum, tönt stolz, die Galerie sei ihnen empfohlen worden, und sie suchen ein Bild fürs Wohnzimmer. Etwas mit Toskana. Scheiße! Wir haben nur abstrakt. Das ist eine Kunstgalerie, bin ich versucht, sie wieder hinaus zu werfen. Toskana. Igitt. Kollegin B. wittert, dass ich mit den lieben Leutchen nicht zurecht komme, und dass wir auf eine kommunikative Katastrophe zusteuern. Spätestens, als die beiden Enttäuschten einlenken und sagen „… oder was mit Blümchen.“ B. wirft sich heldenhaft dazwischen, führt die „KunstliebhaberInnen“ durch die abstrakten Räume, während ich apathisch auf einen Zettel kritzele: „WIR SPERREN SIE ZU DEN ANDEREN.“ Verkaterte Künstlerin D. kriegt einen Lachanfall, den sie nur mit Mühe unterdrücken kann. Derweil parkt vor der Bäckerei gegenüber ein silbernes Auto mit SOLCH einer Schnauze. Laufender Motor. Unrasierter Kerl am Steuer, telefoniert. Wir handeln ab: Das Auto ist teuer. Der Kerl hat einen Minderwertikeitskomplex. Diagnose Männlein. Jetzt erhält er eine SMS, liest, ich scherze: „Sie beobachten Dich“. Er schaut sich um. Motor aus, raus aus dem Auto, rein in einen der leerstehenden Läden neben der Bäckerei. Kurze Zeit später, als würde man den Film rückwärtslaufen lassen raus aus dem Laden, rein ins Auto, Motor an, Telefonieren.
Diese Welt ist merkwürdig.
Was lerne ich an diesem Tag? Dass es nie genug Perspektiven geben kann. Ich habe bis zu dem Zeitpunkt die Welt klassifiziert in „vor der Bühne, hinter der Bühne, auf der Bühne“, eine einfache Künstlermorgenblütentraumwelt, in der es nur drei Kategorien von Menschen gibt: Publikum, SchauspielerInnen und KulturorganisatorInnen. An diesem Samstag erhalte ich einen Gratiseinblick in die Welt der KonsumentInnen und VerkäuferInnen. Das Bild von der Straße, auf der verzweifelt wie portugiesische Hunde die Meute der KonsumentInnen um die Einkaufsläden streunt. Und der hoffnungsvolle Blick aus den Schaufenstern nach draußen, dass sie den Laden stürmen, kaufen, kaufen, kaufen …
Die Straße ist tot. Die echte Welt ebenso. Es wird bald keine Läden mehr geben, in der Stadt. Es wird bald nur noch Menschen geben zu Hause vor ihren Computern, die Waren bestellen und die Kaste der Zulieferer wird es geben und seltsame Nerds, die sich Produkte ausdenken und noch seltsamere Leute, die irgendwo auf der Welt ein Volk versklaven, um den Schund zu produzieren … apathisch faselnder Herr Irgendlink am Rande des Wahnsinns.
Ich rette Erkenntnis: Die Anzahl der möglichen Betrachtungsweisen in der Welt ist schier unbegrenzt. Auf dem Heimweg durchquere ich ein Wohngebiet, in dem sie Sperrmül vor die Häuser räumen. Vor einem Haus Nummer 34 steht ein schönes Gemälde mit Pinien, Hügeln, ockerfarben verspielt mit Olivgrün und Himmelblau. Fast unversehrt, Acryl. Man kann das warme ionische Meer riechen. Seetang. gewitter liegt in der Luft. Es ist schwül. Kitsch! Ich könnte mir in den Hintern beißen. Das ist genau das, was meine KundInnen vorhin gesucht haben. Zweihundert Euro aufm Müll. Eine weitere Perspektive schleicht sich ein: wie wohl die Welt aus der Sicht eines Sperrmüllabfuhrmitarbeiters aussieht?