Vorweihnachtliche Resterledigungen

Oder sollte es besser heißen: diesseits und jenseits der Warteschlange? Oder: wie ich einmal dachte, ich würde Weihnachten daheim verbringen und plötzlich: eine andere Gegend?

Egal.

Runter in die Stadt. In der Landstuhler Straße hat jemand ziemlich Pech, dass ich an ihm vorbei brause, während er gerade versucht, sich in den fließenden Verkehr einzufädeln; und warten muss bis ich vorbei; und dann hinter so einem Idioten herfahren muss, der exakt fuffzig fährt. In der Stadt.  Ich. Obwohl es sowieso nicht schneller geht. Trotzdem hängt er mir Dezimeter entfernt an der Stoßstange. Telefoniert. Jetzt bremse ich auch noch, weil vor mir der Idiot, ein Gülleabpumplaster nur dreißig fährt. Hier auf der knapp zwei Meter breiten Fahrspur.

Willkommen im Land der blankliegenden Nerven.

Die Stadt ist übervoll. Auf der Post stehen aber nur sieben Leute vor mir in der Schlange. Vier Schalter geöffnet. Einer davon ist jedoch dauerbeschäftigt mit einem komplizierten Fall, in dem es um Geld und das Postsparbuch geht. Die anderen laufen fließend. Bis ich dran komme. Ein Paket nach Norwegen. Herausforderung. Ob ich denn keine Telefonnummer hätte von der Empfängerin, fragt die Frau am Schalter. Das sei so üblich. Die haben gar kein Telefon, an die das Paket geht, kontere ich. Kompliziertes Formularausfüllen. Dreißig Euro kostet das Paket. Das letzte hatte nur fünf oder sieben Euro gekostet, kam aber auch nicht an. Ich brauche diese Tracking-Nummer. Die Schlange hinter mir wächst. Der komplizierte Fall mit Irgendwas-mit-Geld und ich, blockieren nun die Hälfte aller Schalter.  Asozial. Als ich endlich fertig bin, stehen fünfundzwanzig Leute Schlange. Sechzehn Uhr. Der mit dem Geld debattiert noch immer. Auf zur nächsten Station, zur Hausbank. Drei Leute stehen mit verdrossenem Blick Schlange. Das dauuuert, stöhnt eine Frau. Seien sie froh, dass sie nicht auf der Post sind, antworte ich, fünf-und-zwan-zig! Wir schwätzen ein bisschen über Menschenschlangen und Vorweihnachtshektik. Ich plädiere dafür, ab dem 31. Oktober das Haus nicht zu verlassen bis zum Aschermittwoch, sage ich. Das bricht das Eis. Sie erzählt ihre Lebensgeschichte, oder zumindest ein paar Intimitäten, die von der Sehnsucht nach Freiheit handeln. Der Mann vor uns beiden hört gespannt zu. In Österreich und im Schwarzwald wäre sie jetzt gerne. Die Mutter sei kürzlich gestorben. Ich erfahre so viel von ihr und ich erzähle auch viel von mir. Dass es ins Land der Katharer geht übermorgen und dass mir Weihnachten zum Hals raus hängt. Weiß ich, sagt die Frau, sie haben doch gesagt, dass sie vom 31. Oktober bis Aschermittwoch nicht aus dem Haus wollen. Ich kann ja nicht, wegen des Hunds, aber warten sie nur, nächstes Jahr, dann muss meine Tochter auf den Hund aufpassen und dann … wie lange warten sie eigentlich schon, frage ich. Zwanzig Minuten, sagt der Mann ganz vorne. Zwan-zig-mi-nu-ten! Boa. Irgendwie ist Geld plötzlich unwichtig geworden und Lebenszeit jenseits der Schlange plötzlich so kostbar, dass ich den Beiden ein schönes Leben wünsche und die Bank unerledigter Dinge verlasse. Wollen doch mal sehen, ob es nicht auch mit ungedecktem Konto ins Land der Katharer geht. Ha! Wie der Retter der Stadt flaniere ich am herzöglichen Schloss vorüber – Supermaaan – und sinniere, einen Blogeintrag über diese diesseits und jenseits der Menschenschlange Sache zu schreiben. Wie ist das eigentlich datenschutzrechtlich? Ich meine, auf jeder Webseite muss man doch heutzutage einen Disclaimer haben, in dem man die Leute darüber aufklärt, was sie gerade an Daten hinterlassen, wie sie gespeichert werden usw. Gilt das nicht auch für Leute am Bankschalter, mit denen man sich mal eben unterhält? Müsste man nicht ein T-Shirt tragen mit einer Datenschutzerklärung darauf: Hallo, alles, was sie mit dem Träger dieses T-Shirts gerade reden, wird in dessen Hirn auf unbestimmte Zeit gespeichert und es wird in ironisch bissigen Blogartikeln nach Belieben verwurstelt, also passen sie gefälligst auf, wenn sie über ihren Hund reden oder den Skiurlaub.

Prisen in der Datensuppe

Wieder einmal sitze ich vor der Facebook Anmeldeseite. Drei kleine Angaben und ich könnte dazu gehören. Zur wohl weltgrößten sozialen Gemeinschaft.Vielleicht trainiere ich für einen stillen Rekord: will derjenige werden, der am aller-aller-öftesten die Startseite aufgerufen hat, darüber sinniert hat, sich anzumelden und dann weiter geklickt hat?

Durch serendipitische Irrwege ein paar Webseiten zuvor folgenden Artikel entdeckt über die mögliche Zukunft des Internet. Ein Schriftstück von 2006. Das erinnert mich an eine frühe Diskussion mit Konzeptkünstler R., in der wir fabulierten, ob in nicht allzu ferner Zukunft sämtliche Streitereien um Marken, Urheberschaften und überhaupt allem Individuellen über Bord geworfen werden. Datenbanken übernehmen die Herrschaft über die zwischenmenschliche Information. Eine Art Datensuppe entsteht, ein Produkt aus tausenden von Bestandteilen und Gewürzen, an dem jeder nach Herzenslust sich laben darf und seinen eigenen Mix zusammenstellen kann. Originale werden zerkleinert und neu zusammen gesetzt. Der Urheber/ die Urheberin von Produkten, Ideen, Worten usw. tritt in den Hintergrund, verblasst – es wird in naher Zukunft kaum noch möglich sein, herauszufinden, wer wann was hervorgebracht hat in dieser Welt – mehr noch: es wird egal sein.

Beim Tomatengießen fällt es mir wie Schuppen von den Augen: der Tomate ist es egal, wer sie gießt. Sie will nur Wasser und ein bisschen Dünger. Das ist alles. Und genau so verhält es sich eigentlich mit Ideen. Ideen wären umso fruchtbarer, wenn man sie freigeben würde zur Weiterentwicklung, anstatt sie geheim zu halten, aus Angst, jemand anderes könnte mit DER zündenden Idee das Millionenvermögen verdienen, das man eigentlich gerne selbst damit verdienen würde.

Das Gespräch damals mit R. vor vielen Jahren, führte tief in die dunklen Irrgänge des Kapitals. Wir kamen zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, sich aus dem allgemeinen Trend auszukoppeln und zu versuchen eine andere Welt zu leben. Wirtschaftlicher Selbstmord. Ziemlich deprimierend. Klar, dass unsere Namen irgendwann verloren sein würden. Die Dinge, an denen wir schaffen, würden dennoch existieren.