Enthüllende Fragen

„Wann warst du zum letzten Mal am Meer?“ konfrontierte mich kürzlich die tolle T., die irgendwie im Meer wohnt, mit meiner Vergangenheit.

„Am 3. Mai 2000 in der Gegend um Sete. Ich habe das Meer gar nicht wahrgenommen,“  lautete meine Bankrotterklärung.

Physiotherapeut Sch. kommentierte mein Statement, „ich mache einmal pro Woche Rückengymnastik“, mit der rhetorischen Frage: „Und wie oft putzen sie die Zähne?“

Die zittrigen Finger der Nichtleser

Frühling! Der Mann verlässt die lange Unterhose … und: ’s ist Wind, ’s ist Wind, ’s ist Wind, der an den Nerven zerrt.

Zwei charakteristische Aphorimen, die den Tag kennzeichnen. Frühmorgens stand die Wohnungstür sperrangelweit auf. Im Halbschlaf wunderte ich mich über das laute Rascheln der Pappeln und bemerkte erst, als die Katze krächzend in die Wohnung schlich, dass die Tür nicht mehr schließt. Das Schloss klemmt. Was für eine marode Welt.

Ein Rückenleiden, denke ich beim Aufwachen, macht die Welt zweidimensional – ne, quatsch, macht dich zweidimensional. Ist der gesunde Mensch bequem in der Lage, den Raum von null bis über zwei Meter Höhe mühelos zu managen, schmälert sich der Bereich für den Rückenleidenden, je nach Schweregrad. Letztes Jahr war ich zwei Tage lang zweidimensional. Dieses Mal komme ich glimpflicher davon.

Ich habe das Blog durchsucht, um herauszufinden, ab wann ich mich vielleicht wieder gut fühlen werde, denn ich muss doch auch letztes Jahr über das unsägliche Leid geschrieben haben? Aber was macht das für einen Sinn? Prognosen sind nicht bindend und die Zukunft an Hand von Blicken in die Vergangenheit vorherzusagen, hat noch nie getaugt.

Was einzig zählt ist doch die Gegenwart.

Ich bin alles andere als gut drauf. Komischerweise ist es selten Schmerz oder Depression oder sonstiger äußerlicher Einfluss, der einen Menschen schlecht drauf sein macht – es ist die Angst und die Unfähigkeit, Ungewissheit zu akzeptieren.

Vielleicht erklärt das die Magnifikanz von z.B. Wetterprognosen: dadurch, dass man mit ungefährer Treffsicherheit Wind, Regen und Sonne prognostiziert für mehrere Tage, kann man sich schon einmal auf die Zukunft einstellen. Sei es nur ein Anhaltspunkt, die langen Unterhosen überzustreifen. Die Wetterprognose kann die Angst mindern. Sie kann sie aber auch schüren. Vielleicht aber erzeugt sie sie erst?

Interessant ist die allgemeine Hysterie, die sich aus solchen Prognosen ergibt. Der abendliche Wetterbericht malt in unseren Köpfen ja manchmal die schrecklichsten Szenen, so dass man am nächsten Morgen nie wieder aufwachen möchte, weil ja vermutlich Ziegelsteine durch die Luft fliegen werden oder der Blitz einschlägt. Früher war das anders: das Wetter kam. Man nahm es hin, durchstand oder genoss die Zeit und erst hinterher ließ man sich über die Ereignisse aus.

Heute gibt es Prognosen. Katastrophales Machtinstrument, finde ich. Ganze Gesellschaften kann man so in Angst und schrecken versetzen, um sie besser zu beherrschen, um ihnen Regenschirme und Wundermittel zu verkaufen oder Versicherungen und Geldanlagen.

Ich glaube, darin liegt das eigentliche Geheimnis der Blicke in die Zukunft. Wenn ich eine Regenschirmfabrik hätte und einen direkten Draht zum Wetteronkel, würde ich ihm Geld geben, dass er das, was da kommt, möglichst dramatisch darstellt.

Als Virus-Impfstoff-Hersteller, wäre ich sehr daran interessiert, dass das Thema Pandemie in den Medien groß ausgewalzt wird, sobald jemand auch nur niest. Arme Schweine.

Als Vermögensberater würde ich meine Hauptarbeit darauf konzentrieren, den Menschen eine ganz schlimme Zukunft zu prognostizieren, und ihnen heimlich ein Produkt anpreisen, das sie vor dieser schlimmen Zukunft bewahrt.

Und als Weblog-Schreiber – hier lüge ich nicht im Geringsten, noch übertreibe ich – kann ich gutväterlich vor den Schlimmen Folgen warnen, mit denen die vielen armen Nichtleser des Irgendlink-Blogs unweigerlich gestraft werden: zittrige Finger, Blindheit, Bluthochdruck, Inkontinenz, sexuelles Versagen; Ihr werdet Eure Arbeit verlieren, Eure Ehegatten verlassen Euch und die Kinder nehmen Drogen, stehlen Autoradios, missbrauchen Eure Kreditkarte … um nur einige negative Folgen zu nennen, wenn man das Irgendlink-Blog nicht liest.

Wohl dem, der bis zum Ende dieses Artikels durchgehalten hat :-)

Langsam musst du werden, Mensch, um dem Gehalt der Dinge auf den Grund zu gehen. Wie oft durchquertest du das Land und gestattetest Orten, namenlos zu werden im wilden Flug – warum? – alles ging zu schnell.

Disziplin war nie meine große Stärke. Wenn ich diszipliniert wäre, stünde ich jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang auf und ginge abends bei Sonnenuntergang ins Bett und würde mich nicht um den Lauf dieser unnatürlichen Welt kümmern, in der die Menschen ihren Hirngespinsten und Träumen und Sehnsüchten hinterher rennen und dabei viele schmerzhafte Opfer bringen.

Dass der Trend zum Schnellen geht und dahin, Vieles auf engstem Raum zu komprimieren, seien es Geld, Erlebnisse oder Glück, wurde mir vor einem Jahr bewusst. Damals schrieb ich die obigen Zeilen. Nun, auf meiner Forschungsreise durch die Krankheit, habe ich es wieder gefunden. Längst vergessen, verdrängt, habe ich die letzten Monate wieder Schwung aufgenommen und bin in den alten Trott des Viel auf engstem Raum zurück gekehrt. Als ob das Leben dadurch wertvoller würde.

Es kann einem passieren, wenn man einen Gebirgspass zu Fuß oder per Fahrrad erklimmt, dass man, sobald man um die letzte Kurve biegt und den Gipfel erblickt, einem Impuls gehorchend, seinen Schritt unbewusst beschleunigt, sich auf den letzten Metern derart verausgabt, dass man vollkommen erschöpft den Gipfel erreicht. Auf diese Weise büßen wir einen Teil unseres Triumphs, schmälern die Befriedigung wenn wir unser Ziel erreichen.

Deshalb ist es wichtig, sein Leben zu entschleunigen, den eigenen Takt zu gehen, Ziel in Gedanken aber niemals offen anpeilen. Verzichten, daneben stehen, beobachten, Leere zulassen, Zeit vergeuden, innehalten, verharren, zuhören, betrachten, riechen, nichts suchen …

Ouh Shalala-singend auf dem wüsten Acker östlich des einsamen Gehöfts. Eine gar groteske Situation wie Endzeitstimmung. „Morgen, Morgen: was wirst du bringen?“ murmele ich, stolpere durch diese Erdwüste, die tagein tagaus von LKWs und riesigen Raupen frequentiert wird, so dass man kein Auge zu kriegt. Direkt neben meinem Wohnzimmer. Quasi in meinem Bett herrscht reger Baustellen-Verkehr. Man darf berechtigter Weise fragen: warum schläft der Typ tagsüber? Nujaaa, das ist so eine Sache. Die ist mir morgens passiert und weitet sich seither aus. Prolaps kehrt mit aller Wucht zurück, was mich bestürzt, aber mich erinnern macht an einen Spruch, den ich kürzlich entweder geschrieben habe oder nur gedacht: „Du musst es ertragen.“ Ertragen ist, neben den Standardlösungen für schlimme Lebenssituationen – überstehen und ignorieren – die dritte, selten in Betracht gezogene Möglichkeit.

Im Westen hing eine schwarze Wolke vor der Sonne. Das ist keine Theatralik. Das war tatsächlich so, ringsum gesäumt von rotem Abendhimmel stand diese herzförmige düstere Wolke über der Szene und ich sang das Lied, es klang wie Blues. Mein einziger Ausflug an diesem Tag führte mich in diese Erdwüste, gebeugt, humpelnd.

Alles in Allem bin ich guter Laune, denn ich bin beweglicher, als letztes Jahr, setze mit der Reha schon am Mittwoch ein, hoffe, nächste Woche wieder ein halbwegs erträgliches Leben führen zu können.

Nun weiß ich, der Prolaps ist mein Meister. Nichts habe ich im Griff und nichts kann ich kontrollieren. Der Prolaps schwebt immer über mir und kann mich in jeder Minute meines Lebens packen. Ich bin ein Spielball der Zufälle. Endlich verabschiede ich einige Illusionen: Tschüss große Fahrradreise! Auf nimmer wiedersehen freischaffende Kunst. Bleibe im sicheren Hafen des Lohnerwerbs.

Und das ist auch gut so.

Ich fühle mich aber in der Lage, irgendwann nach Santiago zu laufen. Immerhin. Laufen und Lesen, das sind die beiden Dinge, die der Prolaptische noch tun kann. Und so tue ich es auch, genau wie letztes Jahr, laufe den Weg vor dem einsamen Gehöft auf und ab – einmal hoch und runter macht einen Kilometer. Habe ich gerade so geschafft vorhin. Ansonsten liege ich im Bett, höre den Baumaschinen zu und lese Vargas- und Nesbo-Krimis.

Bloggen lasse ich erstmal sein haut irgendwie hin.