Ein Kilometer zu weit

Dinge, die du noch tun willst, tu sie möglichst sofort. Frühmorgendliche Stiche im Rücken rufen mich auf den Boden der Tatsachen: du bist keine 20 mehr. Eine neuerliche Radtour zum Nordkap über 3 – 4000 Kilometer, zeltend bei Wind und Regen und Kälte, würdest du vielleicht nicht überstehen.
Gestern diese Straße der Kleinodien. Im Landesinneren parallel zur E4. Zig Hinweisen könnten wir folgen, die uns alle paar Kilometer zu einer Sehenswürdigkeit führen würden. Schmelzofen hier, Axtmuseum dort. Wenn man die Kilometer so wie wir, zwar gemütlich, aber zügig abspult und zwangsläufig das ein oder andere Sehenswerte auslassen muss, wird einem obige These schmerzlich bewusst: alles, was du auslässt, wirst du so schnell nicht sehen können, weil es 2000 km von zu Hause entfernt ist. Alles, was du im blühenden Alter von 20 – 30 auslässt, weil du aus fadenscheinigen Gründen, du hättest kein Geld, dir sagst, Mañana, morgen Junge, ist auch noch ein Tag, wird irgendwann, wenn körperliche Gebrechen eintreten, mehr als nur 2000 km entfernt sein. Unerreichbar. Verpasst.
Wie wir so die 272 gen Süden fahren, vorbei an Gävle im goldnen Abendlicht, blitzt links der Straße ein kaum wiederbringliches Motiv – man mag lachen: die schön gepinselte Zahl 272, die mir noch in meiner Zahlensammlung fehlt. Verpasst, vorbei, erst 1 km später wird mir das klar, dass sie nun 2000 km entfernt ist.
Aber das Schicksal wollte es anders: kaum haben wir das Städtchen Ockelbo und mit ihm das 2000 km entfernte Motiv verlassen, führt uns die Lagerplatzsuche auf einem verschlungenen Pfad zurück.
Bleibt Hoffnung, dass es mit dem Leben so ähnlich ist.
Habe gestern beschlossen, mich für die Blogartikel selbst zu bezahlen. Aus diesen Ferien werde ich als reicher Mann zurückkehren.
Ich bin der millionenschwere Finanzmanager der modernen Reiseliteratur.
Ungebremster Geldfluss beschert Bild: 272 an einer Hauswand in Ockelbo, vorhin doch noch vorbei gefahren.

Bergsjö

Den gestrigen Artikel erst mal in die Warteschleife gestellt, weil kurz zuvor eine Warnmeldung für Auslandskosten vom Telefongiganten kommt. Alle 20 € wird man während glücklichem Auslandssurfens über das Handynetz auf den Boden der Realität gerückt.
Und so verbringe ich den Tag mit zweifeln: wozu das Experiment hier, im Urlaub zudem; solltest doch einfach nur nichts tun und ach, dein Blog interessiert ja sowieso niemanden. So jammere ich vor mich hin und fantasiere, um die Kosten vor mir selbst zu rechtfertigen, ich sei ein wirtschaftliches Unternehmen, der Pharmakonzern der feinen Künste, der gerade ein Milliardenbudget draufgehen lässt, um eine Medizin zu entwickeln.
In der Tat experimentiere ich an einer, für größeres Publikum tauglichen, mobilen Bloglösung und das Fernziel dabei ist, dass ich einmal monatelang unterwegssein kann / werde und täglich kleine Reisebrrichte sende.
Da sollte es eigentlich kein Jammern über ein ohnehin nur phantasiertes Budget geben; und im Hinblick auf das Große, das unweigerlich kommt, spielen lumpige 50 oder 100 € sowieso keine Rolle.
Ich bin auf der Suche nach einem neuen Reiseliteraturformat und fummele dabei in meiner Mini-Blog-Suppenküche in den Nischen zwischen den klassischen Formaten: bebilderte Reisereportage ala Geo und Reisekurzgeschichte ala Andreas Altmann; über allem gaukelt das Reisestandardwerk Umterwegs von Jack Kerouac als eine Art heiliges Buch.
Doch worüber sollte ich eigentlich schreiben, gibt es doch keinen roten Faden, außer dem Täglichneu, dem Niedagewesenen, das irgendwann morgens so gegen halb Neun eintritt und vor dem du, dich räkelnd, dir die Augen reibend, wieder und wieder und wieder stehst.
Der Boden des kleinen Servicehauses des Sagliden Campings unweit von Bergsjö ist so schief, dass man sich darauf vorkommt, wie auf einem auf Grund gelaufenen Schiff. Hoffend, dass die nächste Flut genug Wasser unter den Kiel bribgt, damit man wieder frei kommt. In der Tat bangt es mir ein bisschen, dass die schräge Hütte zusammenbricht und mich begräbt. Dennoch wasche ich in dem halbdunklen potentiellen Grab das rechte Bein meiner Shorts, über das ich gestern Fischsoße geschusselt habe.
Der Platz ist ein Idyll direkt am See. Vor der Rezeption die üblichen Troll-Figuren, allmögliches, liebenswertes Chaos bestehend aus uralten Gartengegenständen, Bottichen, abblätternder Farbe, ein paar Landmaschinen. Durchaus aufgeräumt, sauber, herzlich und mit umgerechnet 8.5 € pro Nacht exorbitant günstig.
Der See ein Wunder für sich, gestern Abend seltsame 16 Grad kalt, heute Morgen überraschende 20.
Bis zum Bauchnabel läuft man auf feinem Sand etwa 80 Merer weit ins bräunliche Klar. Das Platzeigene schneeweiße Ruderboot kann kostenlos genutzt werden.
„Na, Monsieur Irgendlink, fleddern wir gerade ein Bisschen im GeoReportageJargon – nee, so gediegen ist die Sprache nu auch wieder nicht.“
Von schrägen Hütten wüsste Freund QQlka viel zu berichten. Auf der Radeltour 1995 nutzten wir nämlich des Öfteren diese uralten schwedischen Scheunen, um uns vor Gewitterregen unterzustellen und stellten fest: die Zimmerleute hatten bei diesen Gebäuden wohl gänzlich der Kraft ihrer 9-Inch-Nägel vertraut und in selbstherrlicher Ignoranz auf stabilisierende Schrägstreben verzichtet. Deshalb auch das schräge Servicehaus hier auf dem Sagliden Zeltplatz.
Bild: der große Pharmakonzern der mosernen Reiseblogliteratur hat die Mittel für Bildbeiträge eingefroren bis zur nächsten Aktionärsversammlung.

Homöopathisches Nordfahren

Eigentlich ist es ja egal, in welche Richtung man fährt. Und so muss ich mir ein bisschen Sturheit vorwerfen, wenn ich sage, nur nordwärts ist gut oder abgewandelt: the West is the best, um Jim Morrison zu zitieren. Man kann noch so weit nach Westen segeln, es wird immer Etwas westlicher sein. Okay, ein bisschen an den Haaren herbei gezpgen. Es gibt zwar keinen absoluten Westen oder Osten, aber einen Norden und einen Süden. Wie Sofasophia am 18. Juli berichtet, führen un widrige Umstände wieder nach Norden, kilometerweit sogar auf den wunderbaren, menschenleeren, unbefestigten aber topfebenen Strecken.
Gemug Zeit, mir klarzumachen und zu akzeptieren, dass ich nicht mehr der bin, der ich einst war, dass ich nun keine Heimat mehr habe oder alle Heimaten der Welt. Ich bin endlich angekommen und könnte auf alle Ewigkeit so weiter reisen. Die geheimnisvolle Kraft der Richtung, in die man reist, ist abhanden gekommen oder sie hat sich sogar umgedreht. Stand bei früheren Reisen vor 2010, die Heimkehr als Ziel fest und unverrückbar, so befinde ich mich nun in einer Art Zielvakuum. Ein seltsamer Zustand, den ich am ehesten als „gegenwärtig“ bezeichnen würde.
Ich spüre den Verlauf der Zeit nicht mehr, wenn ich hier, da Draußen bin. Noch vor Monaten hatte ich geglaubt, dass die Zeit mit zunehmendem Alter mehr und mehr rennt. Nun, hier, irgendwo da Draußen, bin ich
mir nicht mehr so sicher.
Bild: ICA-Markt in der Nähe von Nyåker.

Umkehr

Seit wir auf dem Weg nach Süden sind, habe ich das Gefühl, in die falsche Richtung zu fahren. Jeder Breitengrad, den wir überqueren, gar jede Bogenminute Richtung Malmö eine kleine Niederlage.
Seit die Idee reift, mit weiteren europäischen Ländern so zu verfahren – rein künstlerisch – wie im Frühjahr mit Frankreich, nämlich die Länder mit dem Fahrrad zu durchqueren und dabei eine künstlerisch-wissenschaftliche Fotostrecke von hoher Bilddichte zu schaffen, kommt mir die Zeit wieder so schrecklich knapp vor. Als gäbe es nur diesen einen Sommer, ich Eintagsfliege der feinen Künste, ich Radieschen, ich nimmermehr blühende Einjahrpflanze.
Zudem graut mir vor der Hitze. Wenn es schon hier in Nordmaling nähe Umeå unweit des Polarkreises fast unerträglich ist: 9 Uhr, stechende Sonne, über 20 Grad Celsius.
Ein rotverbrannter Däne in Badehose wäscht die Scheiben seines Autos. Alter Knab;, Frau und Kind planschen im Schwimmbad nebenan und das Auto mit seiner flotten Ralleybemalung und dem silbernen Spoiler will und will nicht zu der Familie passen. Im Hintergrund, kaum 100 m entfernt säußelt die E4, die wichtigste Nord-Süd-Verbindung Schwedens. Unweit der Ostseeküste verbindet sie die wenigen Städte, meist zweispurig, manchmal auch dreispurig und nur um große Orte autobahnähnlich. Im Vergleich zu deutschen Autobahnen praktisch unbefahren. Nordmaling ist nicht sehr groß. Nächste nennenswerte Ausfahrt von der E4 ist gut 60 km entfernt. Dazwischen kommt Wald, ab und zu eine geteerte Strecke ins Landesinnere. Oft sieht man an diesen Straßen ein Ortsschild, 100 Meter später dann ein Haus, paar Felder, ungeteerte Wege, an deren Mündung auf die Hauptstrecke eine Phalanx Briefkästen steht. Nur sie geben Aufschluss darüber, wieviele Familien in den Wäldern wohnen. So sieht es im Norden Schwedens aus. Wir fragen uns, wie hier überhaupt Straßen entstehen konnten, 100e Kilometer weit durch scheinbares Nichts.
Vielleicht wie mit den Kunststraßen: eine Idee ging voraus? Die Idee vom Bodenschatz und vom Holzschlagen vs. Idee vom malerischen Kunststraßenbild? Ist der Kunststraßenbau nicht einfach nur eine Simulation ökonomischen Handelns mit künstlerischen Mitteln?
Bild: selbstgemaltes Hoppelstrecken-Warnschild bei Vindeln.

Runter zum Meer

Morgens ein paar zaghafte Sonnenstrahlen, die sich im Laufe des Tages zu wolkenlosem Himmel manifestieren. Mehr oder weniger folgen wir dem Fluss Skellefteälven via Ardak und Malå zur Straße 370, kilometerweit südwestlich. Ein Besuch eines einsamen Gehöfts, drei Kilometer weit abseits über eine Schotterpiste im Wald, das mit Hinweisschild „Samekultur“ eine Art Museum suggeriert, man haushohe Jurten und Rentierherden erwartet, erweist sich als Flopp: mitten im Wald steht ein etwa 12 qm großer Souvenirshop. Nix Jurte. Und der 300 m lange Weg zu den Rentieren kostet umgerechnet 10 € Eintritt.
In der Gegend um Norsjö kreuzt unser Weg den Kapschnitt, jene 3600 km lange Radstrecke, die ich 1995 zusammen mit Galerist QQlka als kombiniertes Radtour- und Kunstprojekt realisiert habe. Leider habe ich meine Aufzeichnungen vergessen und kann mich nach den 15 Jahren auch nicht an den genauen Streckenverlauf erinnern. Grob aber folgt der Kapschnitt einer Inlandsbahnlinie von Südwest- nach Nordostschweden. Auch der Sverigeleden, wohl eine Fernradstrecke, dessen Beschilderung wir immer wieder sehen, führt durch diese Gegend.
Das schräge Sonnenlicht. Ewige blaue Stunde, von der wir Fotografen des Südens nur träumen können. Dies ist das Licht, aus dem die Fotobildbände gemacht sind.
Gestern, im Angesicht der milden Sonne und der autolehren Straßen und der immer wieder lockenden Fernradwegsschilder, ist die Sehnsucht groß, das Land zu erradeln. Kaum hält es mich im Auto, die Erinnerung an die Kapschnitttour im Kopf.
Aber nun, windig, trüb, drohender Regen, 200 Meter über den Bach säußelt die E4 … graues, nimmerendendes Band.
Es ist gut wie es ist und ich kehre irgendwann wieder. Mit dem Fahrrad; vielleicht sogar kommt QQlka mit?
Bild: alte Fahrräder hinter einem Schuppen auf dem Campingplatz von Bureå.