Seismologische Aktivitäten der Gewohnheitsplatten

[nachträglich freigeschalteter Artikel]

Zurück in Bern. Seltsam aufgekratzt stehe ich zwischen allen Stühlen. Zum einen gaukelt die Wandertour in Spanien ab nächsten Donnerstag, zum anderen die Unlust, mich von einem Gewohnheitszustand in den nächsten zu begeben. Denn das ist eines der unergründlichsten Geheimnisse, wie ich finde: dass wir Menschen uns allzu gerne in Gewohnheitszustände begeben, so als würden wir uns in eine Badewanne voller Heißwasser setzen. Am Anfang tut es kurz weh und kribbelt an den Beinen, aber sobald wir mit ganzem Körper eingetaucht sind und uns – meinetwegen – in ein gutes Buch vertieft haben, können wir darin liegen, in der Badewanne oder im Gewohnheitsstrom und merken nicht einmal wie das Wasser abkühlt. Somit war es wie ein Schock, gestern den Gotthardt nach Norden zu durchqueren und nach fünfstündiger Fahrt (mit geocacherischen Unterbrechungen) in der dunkelnden Stadt anzukommen, die kühle Sofasophie’sche Wohnung zu betreten, auf dem Sofa sitzend die Wand anzustarren. Ein ganz anderes Gewohnheitsmuster, als das, das wir die letzte Woche lebten.

Noch schlimmer wird es, für drei Tage aufs einsame Gehöft zurück zu kehren in die kalte, verregnete Pfalz. Die unterkühlte Künstlerbude aufzuheizen wird eine der leichtesten Übungen. Aber dann dieser vor-Reise-liche Spießrutenlauf, allen voran eine Ausstellungseröffnung des örtlichen Kunstclubs, was mir nie besonders gut gefällt. Am Abend garniert mit dem Durchforsten von einem Jahr Steuerrelevanten Zetteln und Dokumenten, denn das Finanzamt sitzt mir auch schon wieder im Nacken. Und nicht zu Letzt der bange Besuch bei der Lungenärztin, die mich letzte Woche versucht hat zu kontaktieren. Es ist selten gut, wenn einen die Ärzte anrufen.

Ich wünschte, es wäre schon Sonntag, dann wäre ich schon in Pamlpona/Irun, hätte mich an das Wandern auf dem Camino Frances gewöhnt und könnte all den zerrenden Kleinkram, den ich oben angedeutet habe hinter mir lassen. Es soll regnen.

Die sprechende Straße von Prosito

Wir verlassen das enge Tal. Die Welt ist wieder groß. Die Sonne lacht. Versehentlich.

Wie wir so vor den Wanderwegetafeln in der Nähe stehen und uns überlegen, wo es denn heute hingeht – etwa zwölf qualvolle Kilometer über Stock und Stein? – finden wir uns plötzlich auf der Straße nach Süden wiieder, Mailand zum greifen nah. Die Orte, die in der Wanderkarte am Bahnhof Aquarossa verzeichnet sind, haben wir ja alle schon abgeklappert. Weiter, weiter, weiter, das ist unser Menschenziel.
Bei Prosito fahren wir mit offenem Fenster und die Granitpfosten, die in unregelmäßigen Abständen die Straße säumen, reflektieren ein seltsames Gedicht: „Fft- Fftfftffft-Fft“. was ganz eigenwillig klingt Und ich erzähle Sofasophia von den japanischen singenden Straßen, deren Belag von einem findigen, kunstliebhabenden Ingenieur so manipuliert wurde, dass mann im Auto eine Melodie hört, wenn man mit einer bestimmten Geschwindigkeit über den Belag rollt. So erzählt uns die Straße von Prosito Geschichten bis wir in Locarno sind.
Ich erkenne: meine wahre Bestimmung liegt in der urbanen Trash-Fotografie. Durch die hintersten Winkel der Stadt streifen wir und mit jedem Meter wird eine Ecke bunter als die nächste. Auf dem zentralen Platz bauen sie diesertage das temporäre Eisstadion auf, was es schon seit mehr als zehn Jahren jeden Winter hier gibt. Am Lago Maggiore setzen wir uns in der spätnachmittaglichen Sonne auf eine Bank und essen unsere selbstgeschmierten Kunstpausenbrote. Im Park Hans Arp. Zahlreiche Bronzeskulpturen, die allesamt aussehen, als wären es ineinander verschachtelte menschliche Nasen, zieren das ansonsten recht kahle Arreal am See. Ein Postmann fährt mit seinem Sprinter vor, was mich an meine Zeit als Paketfahrer erinnert und ich bin in dem Moment derart desperat, dass ich mir vorstelle, ich wäre er und ich verfluche das ruchlose Künstlersein, dieses ewige denken, denken, denken und immer alles fotografieren und aufschreiben und mitteilen, oh ich habe es so satt, die Sonne scheint und fast ist es ein bisschen Frühling. Wie gut, wenn endlich Ruhe wäre: „Postmann sein wollen, wie er eigentlich glücklich dein müsste auf der Suche nach dem Empfänger eines Pakets auf einem Bootssteg in Locarno“, denke ich und: „Das Schnurren des Sprinterdiesels beim Wenden, ach, herrlich“. Aber als er an uns vorbeifährt auf dem Weg in den Feierabend, macht er einen verspanntan, grimmigen Eindruck und starrt mir für eine Sekunde hasserfüllt in die Augen oder neidisch, vielleicht wünscht er sich, er wäre uns? Wie paradox das Leben doch ist.
Wir schlendern weiter durch die Stadt, heben zwei kleine, gut gemachte Geocaches und setzieren das tessinische Städtchen geradezu fotografisch. Mit reicher Beute kehren wir zurück ins Bleniotal. Dies ist unser letzter Urlaubstag.

Der das Tal nie verlässt

„Eine ungewisse Zukunft gegen eine Ewigkeit wie diese tauschen – das wäre ein gutes Geschäft.“ denke ich neulich abends, schreib’s auf, schlaf‘ ein, vergess‘ es.
Heute, wie wir so durch’s Tal cruisen, per Auto und auch zu Fuß, wird mir die Beschränktheit der Welt bewusst. Eingekeilt zwischen Felsen wandeln wir ein Leben lang, hie und da bietet sich ein malerischer Ausblick auf den Sturzbach, der durch die Niederung rauscht. Viel zu schnell. Das muss kein schlechter Zustand sein. Eingeengt sind nur diejenigen, die einen über die Maßen Bewegungsdrang haben, die, denen das Nahe nicht gut genug ist.

Wir sollten nach dem Ausschau halten, der das Tal nie verlassen hat; dem, der nie wissen wollte, was hinter den Bergen ist oder jenseits des Passes oder drunten auf der anderen Seite der Stadt, wo die große Straße dröhnt.
Der sein Leben auf einer 20 mal 3 Kilometer Fläche lebt. Nach genau Dem in uns sollten wir ausschau halten. Und glücklich sein.

Als Spinner in Biasca

‚egen ‚ egen ‚ egen. Jeden Tag ein Bisschen weniger. Widrige Umstände führen uns nach Biasca, jenes kleine Städtchen, in dem die Lugmanier- und die Gotthardtroute zusammen kommen. Während sich Sofasophia bei der Doktorin eine lästige Infektion diagnostizieren lässst, streife ich auf Fotopirsch durch die Straßen in der Nähe des Bahnhofs. Niesel auf mein Haupt. Aus den Felsen über der Stadt spritzten gleich mehrere Wasserfälle in die Tiefe. Wegen der flach hängenden Wolken sieht man nicht bis ganz nach Oben. Auf der Suche nach der Altstadt durchquere ich ruhige Vorstadtstraßen, aufgelockerte Besiedlung, ab und zu eine kleine, fettgrüne Weide, kaum größer als 400 qm, paar Kühe darauf Dann wieder betonene Bauten neueren Datums. Zweckbauten, nix Altstadt. Nach dem Ortszentrum zu fragen, dazu bin ich zu eitel, ich Mann, ich. Stapfe lieber nach dem Serendipitätsprinzip umher, knipse mit dem iPhone die Straßennamenschider: Via Zurigo, Via Basilea, Via Quinta, Via Stall Danz und wie sie alle heißen. Bei einem Manor-Laden komme ich in eine Art Fotorausch. Hinter dem Laden Graffities, Kuhweide, abgefratzte Mülltonnen und schwerer, grauer Himmel wie er regensatter nicht über der Szene hängen köntte. Beinahe fasele ich mit mir selbst, so entzückt bin ich, ach was, plötzlich rede ich laut und deutlich, halte das iPhone vor den Mund wie ein Diktiergerät und spreche auf Band: „Habe heute meine Forschungsarbeiten zum Thema iDogma abgeschlossen. …“ Pause, Blick in die Wolken, Mütze zurecht rücken. “ … nun kann es endlich los gehen: alle Kunst eint sich in dir, du kleiner Wunderkasten.“ Verliebt starre ich das Telefon an Drei düster drein blickende Jugendliche beäugen mich misstrauisch. Da wird mir die Groteskizität meines Auftretens bewusst. Sie müssen mich für einen totalen Spinner halten, wie ich in fremder Zunge mit dem Gerät spreche, mich hinter Mülltonnen bücke, um irgendwas Komisches zu fotografieren. Eine Weile starren wir einander fassungslos an. Dann kommt eine SMS der frisch verarzteten Geliebten: „Warte im Schuhgeschäft auf dich.“ – „Nichts kaufen, komme sofort“ hacke ich panisch in die Tasten.
Bild: Zahlensampler aus den Nummern an den mechanischen Weichenstellern am Bahnhof Biasca. Aufgenommen nach dem iDogma mit Pro-Camera-App, kombiniert mit Pixter, beschnitten mit Photoshop Express und gebloggt mit Blogger+.

Das Kastanienmonument von Navone

Regen, Regen, Regen. Ein Bisschen fühlt sich diese Woche an wie die Woche Anfang Mai, in der ich durch die Tarnschlucht radelte. Es will und will nicht aufklaren. Von Südwesten treibt es dunkle Wolken das Tal herauf und die Schneefallgrenze liegt – ähnlich wie im Mai – bei etwa 900 Metern. Im Gegensatz zur Tarnschlucht, haben wir aber hier ein schnuckeliges kleines Häuschen als Basislager. Machen Tages- oder nur Stundentouren, leichte Rucksäcke, Wanderschuhe, Regenjacken, Mütze und Handschuhe. Wir lassen uns von Zufällen führen, bzw. von findigen Geocachern, die im Bleniotal ein paar besondere Orte markiert haben, indem sie einen Cache versteckt haben. So gibt es eine Kastanienbaum-Serie, die zu den größten und ältesten Bäumen im Tal führt. Einer von ihnen steht in dem winzigen Bergdorf Navone. Ein 2 Meter breiter Teerweg windet sich von der Hauptstraße ab dem Dorf Motto dort hinauf. Der Weg ist so beklemmend eng, dass es uns lieber gewesen wäre, über den Wanderweg die 350 m zu erklimmen. Aber der Regen … Unterwegs lauerte allmögliche Gefahr, naja, mehr in den Köpfen. So erinnerten wir uns jenes Kleinlasters, der uns bei der Anreise an unübersichtlicher Stelle überholt hatte – wenn man so etwas erlebt hat, muss man ständig daran denken, dass dieser Henker von Fahrer sich wohl immer noch auf den engen Straßen im Tal herumtreibt. Wenn er einen nicht gerade überholt, könnte er einem auch entgegen kommen. Am Castello di Serravalle hat sich just ein Unfall ereignet. Böses dunkles Auto hängt motorhaubenabwärts über einem Weinberg. Der verkehrsregelnde Polizist grinst. Paar Schaulustige. Auf dem Weg nach Navone blockiert eine Schafsherde die Straße. In Navone selbst herrscht Stille. Kein Mensch scheint hier auf knapp 800 Metern dauerhaft zu wohnen. Das Dorf besteht aus herausgeputzten Ferienrusticos, Strom scheint es nur von Solarzellen zu geben. Dann die 12 Meter hohe Kastanie mit einem Stammumfang von über 9 Metern. In ihr soll eine rote Katze wohnen. Der Nur-Stamm-Baum lebt noch immer. Hunderte von kleinen Ästen wachsen aus dem alten Holz. Zentrales Bauwerk in Navone ist eine achteckige wunderschöne Kapelle mit einem einladenden Vorbau, der bestimmt so manchem Wanderer schon als Schutz vor Regen gedient haben mag.
Auf unserem Rückweg schauen wir uns die Ruine der Serravalleburg an. Die Unfallstelle ist mittlerweile geräumt und dort wo das böse schnelle Auto hing, ist jetzt ein Loch in der Weinbergsmauer. Das Auto wäre nur ein zwei Meter abgestürzt. Es gibt andere Stellen im Tal, an denen es steiler, gefährlicher, böser ist. Ich frage mich, wie es dem Kleinlaster(henker) geht, der uns am Ankunftstag überholt hat.