Friss Süden

Lange keine sechsspurige Straße mehr gesehen. Supplement Seitenstreifen, und dieses höllische Gemetzel, 130 plus X. Zurück im Krieg. Linke-Spur-Protektionismus. Nach 18 Uhr aber erträglich. Noch vor ein paar Stunden schien die Straße mitten im Meer zu enden. Die kilometerlange Øresundbrücke endet, wenn man von Norden kommt, plötzlich auf einer seichten Landzunge, rechts, links und vorne die See und ein bisschen Gras und Sand. Kurz vor Kopenhagen verschwindet die Straße in einem kilometerlangen Tunnel. Noch Anderthalb Stunden Dänemark, achtspurige Autobahn durch Kopenhagen zum Warmwerden. Auch die dänischen Autofahrer führen Krieg. Ein überforderter Norweger, vermutlich aus dem Norden des Landes kriecht mit 70 über die zweite Spur, überrollt, verhupt und beschimpft. D. marschiert mit 110 durch die 80er-Zone. Wenn wir geblitzt werden, werde ich leugnen, sie zu kennen. Sie heißt Tanja, werde ich sagen, mehr weiß ich nicht, eine finnische Tramperin, die ich seit Turku mitnehme und die mich ab und zu abgelöst hat, ist ’ne weite Strecke von Turku bis hier runter, werde ich sagen und: nein, ihre Adresse habe ich nicht, Tanja aus Turku. In Bielefeld hab ich sie dann abgesetzt bei der Araltankstelle, werde ich sagen. Ich weiß, wie man Spuren verwischt.
Ich hasse diesen Krieg. Ich tauge nicht für Geschwindigkeiten über 70-80 km/h. Ich bin der irritierte Nordnorweger der modernen Blogliteratur. Und D. Ist die Schweizer Garde auf dem Vatikan der Straße.

Letzte Ausfahrt Staffanstorp

Kurz vor der Øresundbrücke die letzten Kronen vertankt, verjubelt, in Knäckebrot umgesetzt. Beide lehnend an einer Hauswand, unweit ein offenes WLAN. Die WLANs sind hier in der Gegend leichter zu fimden, als die Stadtzentren.
Bilder: Ich-Knäcke; Fahrrad; schmutziger Spruch.

Die Bunker von Höör

Falls man mal einen Atomkrieg überleben möchte, scheint mir der Campingplatz neben Schonens Tierpark in der Nähe von Höör, unweit von Malmö nur wenige hundert Kilometer südlich von Stockholm eine gute Wahl. Das Servicehaus mit 120 qm großem Aufenthaltsraum und sündhaft teurem WLAN ist aus Stahlbeton. Weil es teilweise unterirdisch ist, nur sehr kleine, schießschartenähnliche Fenster hat und ein tarnfarbenes Grasdach hat, erkennt man es nur, wenn ein Gast durch die schusssichere Tür rein oder raus geht. Innen herrscht ein permanentes Summen der Lüftungsanlage und es gibt alles, was man fürs Überleben eines Atomkriegs braucht: Klopapier, Sauna, TV. „Grottbyn“ ist eine Ansammlung unterirdischer Hütten, in denen geneigte Gäste leben können wie Fred Feuerstein. Recht teurer Platz, wegen der vielen Gäste ständig von Schmutz bedroht. Auf der Zeltwiese gegenüber campt ein Paar mit winzigem Auto und noch kleinerem Zelt, dem man bei Regen nie trauen kann. Bemerkenswerter Weise hat das Auto ein Kennzeichen, das mit XXS beginnt.

Auf dem Fischkutter der Erinnerungen

Ich vermisse:
Lövbergs Lila, den löslichen Kaffee in der lila Packung, den wir 1995 auf der Radtour zum Kap aechs lange Wochen tranken. In Glommersträsk schützten uns die lila Lövbergs-Sonnenschirme vor der schrägen Augustsonne. QQlka und ich räkelten uns ein letztes Mal, bevor es sich nördlich von Pajala einregnete und nie mehr aufhörte.

Auch das Bier mit dem Elch drauf, Lapin Kulta. 2,8 % leicht, konnte ich in keinem Supermarkt finden.
Das Hirn ist ein Netz voller Erinnerung; trügerisch seine Maschenweite; der Erinnerungsfischfang, ein Leben auf See; wie reichhaltig doch unsere Fischgründe sind und wie trügerisch untief so mancher Sund, den wir in langsamer Fahrt durchlaufen.
Vielleicht gibt es einfach kein Lapin Kulta mehr und auch kein Lövbergs Lila Löskaffee – hat es sie je gegeben?
Boxholm bei Mjölby in der Nähe von Motala südlich von Vesterås nur wenige hundert Kilometer von Stoclholm entferrnt. Irgendwie sagt mir der Name etwas. Vielleicht sind QQlka und ich vor 15 Jahren hier durchgeradelt? Oder knapp dran vorbei und der Name ist mir ins Netz gegangen, als ich an der Kreuzung zur Straße Namenlos das Hinweisschild gelesen habe? „Boxholm 17 km“. Oder entspringt der winzige, zappelnde Erinnerungsfisch etwa einem meiner vielen, langen, genüsslichen Kartenträume?
Boxholm jedenfalls, Sofasophia und ich bloggend in seichter Sonne. Nur drei Plätze auf dem winzigen Camping belegt. Strandbad hundert Meter entfernt; warmes, weiches Wasser. Stille. Folgender Dialog:
I: Hast du eben nicht gefragt, ob man genüsslich mit 2 S schreibt?
S: Ja, warum?
I: Dann darf ich das in meinem Artikel nicht benutzen? Wegen Abschreiben und so.
S: Mhmmm. Darfst nicht. Wir sollten nicht über das Gleiche bloggen.
I: Hast du in deinem Artikel schon ein E benutzt?
S (lachend): Mhmmm-Muhahahaha.
I: Dann hab ich ein Problem.
Bild: Kopfsprung verboten. Strandbad Boxholm.

Ein Kilometer zu weit

Dinge, die du noch tun willst, tu sie möglichst sofort. Frühmorgendliche Stiche im Rücken rufen mich auf den Boden der Tatsachen: du bist keine 20 mehr. Eine neuerliche Radtour zum Nordkap über 3 – 4000 Kilometer, zeltend bei Wind und Regen und Kälte, würdest du vielleicht nicht überstehen.
Gestern diese Straße der Kleinodien. Im Landesinneren parallel zur E4. Zig Hinweisen könnten wir folgen, die uns alle paar Kilometer zu einer Sehenswürdigkeit führen würden. Schmelzofen hier, Axtmuseum dort. Wenn man die Kilometer so wie wir, zwar gemütlich, aber zügig abspult und zwangsläufig das ein oder andere Sehenswerte auslassen muss, wird einem obige These schmerzlich bewusst: alles, was du auslässt, wirst du so schnell nicht sehen können, weil es 2000 km von zu Hause entfernt ist. Alles, was du im blühenden Alter von 20 – 30 auslässt, weil du aus fadenscheinigen Gründen, du hättest kein Geld, dir sagst, Mañana, morgen Junge, ist auch noch ein Tag, wird irgendwann, wenn körperliche Gebrechen eintreten, mehr als nur 2000 km entfernt sein. Unerreichbar. Verpasst.
Wie wir so die 272 gen Süden fahren, vorbei an Gävle im goldnen Abendlicht, blitzt links der Straße ein kaum wiederbringliches Motiv – man mag lachen: die schön gepinselte Zahl 272, die mir noch in meiner Zahlensammlung fehlt. Verpasst, vorbei, erst 1 km später wird mir das klar, dass sie nun 2000 km entfernt ist.
Aber das Schicksal wollte es anders: kaum haben wir das Städtchen Ockelbo und mit ihm das 2000 km entfernte Motiv verlassen, führt uns die Lagerplatzsuche auf einem verschlungenen Pfad zurück.
Bleibt Hoffnung, dass es mit dem Leben so ähnlich ist.
Habe gestern beschlossen, mich für die Blogartikel selbst zu bezahlen. Aus diesen Ferien werde ich als reicher Mann zurückkehren.
Ich bin der millionenschwere Finanzmanager der modernen Reiseliteratur.
Ungebremster Geldfluss beschert Bild: 272 an einer Hauswand in Ockelbo, vorhin doch noch vorbei gefahren.