Bau, schlau wem – oder das Irgendlink’sche Lot-Theorem

Eben noch denke ich über einen Artikel nach „Wie man ein Weblog aufräumt, das schon zehn Jahre in Betrieb ist“, schon finde ich mich perversfrüh morgens auf einer Baustelle wieder. Kollege T. hat eingeladen, ihm beim Wohnungsrenovieren zu helfen. Insbesondere die Freunde, bei denen er sicher ist, dass sie Baumaschinen haben und diejenigen, die einen bauschlauen Eindruck machen, hat er angefragt. Moi même also. Eine Wand muss gestellt werden. Das geht nicht ohne Lot. Ein Lot ist ein schwerer Metallkegel mit Schnur dran, weiß der Bauschlaue. Wohin man es hängt, es zeigt den direkten Weg zum Erdmittelpunkt. Es ist die Wandgradgarantie persee. Das Lot war lange nicht im Einsatz. Die Schnur ist total verknotet, weshalb erst einmal ein Schlüpfen ins Gordon Knot Kostüm angesagt ist. Es ist zum Verzweifeln! Ich knote mir die Finger wund, aber die Schlinge scheint sich nur noch mehr zuzuziehen. Abschneiden nutzt auch nichts. Dann hätten wir zwar ein Lot, aber wir müssten erst einen Lotschnurladen finden, um eine neue Schnur zu kaufen. Ich merke, dass ich mit meinem chaotischen Versuch, ohne Brille auf Gutglück an den vielen Schlingen zu ziehen nicht weiterkomme. Die Analogie zum zehn Jahre alten Weblog mit zehntausenden von Artikeln kommt mir in den Sinn. Ist so ein unstrukturiertes Blog nicht eine exakte virtuelle Analogie zum Lot-Problem? Theoretisch gibt es in jedem Langzeitblog eine durchgängige, jahrelange, klare Linie, vielleicht ein paar parallele Themenstränge, die zu einem unklaren digitalen Konglomerat zusammengeknotet sind und die es mittels Aufbau einer klaren Kategorie- und Schlagwortstruktur zu ordnen gilt. Bloß: wo anfangen? Man müsste alle Artikel noch einmal lesen und sie kategorisieren. Kürzlich hatte ich dieses Problem wie folgt gelöst: ich überlasse das Problem der Nachwelt, werde stattdessen mich um die Bloggegenwart kümmern, mir eine Kategorisierungs- und Verschlagwortungsdisziplin aneignen. Aber hier am Bau mit dieser verworrenen Lotschnur? Unentwirrt hat das Lot eine Länge von höchstens fünfzig Zentimetern. Ich muss es entwirren!
Manchmal hilft es schon, in einer verworrenen Situation kühlen Kopf zu wahren, nicht grantig zu werden, sich auf eine lange Zeitspanne einzustellen, die zwischem dem liegt was ist und dem, wie man es haben möchte. So suche ich den Anfang der Schnur und gehe sie stur von Knoten zu Knoten durch, mantrisch. Wie Rosenkranzbeten. Im Blog wäre das wohl auch möglich, aber da halte ich mich lieber an die Idee, die Gegenwart zu ordnen und die alten, unverschlagworteten Artikelleichen einfach im Nirvana der Uneindeutigkeit zu wissen. Diesen Artikel sollte ich nun noch Kategorisieren und verschlagworten …

Homo Discolonius – das zersiedelte Ich im Internet

Der zersiedelte Mensch, das sich selbst auflösende Individuum, die Fragmentierung des digitalen Ichs auf verschiedenen Plattformen … wenn die Lateiner dafür ein Wort gewusst hätten, hätten sie vielleicht den Begriff Homo Discolonius, Unterart Homo Discolonius Oppidiensis geprägt.

Drei Instanzen eines gesichts überblendet in einer quadratischen Collage
Ich hoch Drei Homo Discolonius

Soziale Medien sprießen wie Pilze aus dem Boden und wer etwas auf sich hält oder auch einfach nur mithalten will in dem kommunikativen Massenwahn, muss sich permanent auf neue, heilversprechende Plattformen einlassen. Facebook hier, Twitter dort, WhatsApp jenerorts, Tumblr, WordPress, (wer kennt noch wer-kennt-wen?). Nicht genug: zu den reinen Kommunikationsplattformen, diesen Mittelaltermärkten der Moderne, kommen auch noch jede Menge Fun- und Hobby-Communities, Geocaching, diverse Spieleportale, Sport hier, Nachrichten dort. Zu guter Letzt die Selbstvermarktungsplattformen für Ebooks, T-Shirts, Kunst, Fotos, Unmengen geistigen Eigentums, die zu Fuße des Ecommerz-Gletschers sich zu einer Endmoräne aufwerfen. Stehen wir vor einer Art Babylonischer Identitätenverwirrung?

Die Zeit vor der Zersiedelung des Ichs, kurz vor der Geburt des Homo Discolonius

Als junger Blogger hatte ich einmal die Illusion, einfach nur Ich bleiben zu dürfen im Netz. Ein Mann ein Blog! Und nur eine einzige Internetadresse! Das war um die Zeit, als Facebook gegründet wurde und noch niemand wusste, was das ist. Ich postete täglich Texte und Bilder auf einer Blogplattform namens myblog.de, die nach einigen Crashes von 20six.de geschluckt wurde und das junge WordPress war gerade am Aufkeimen, weshalb es nahe lag, auf einen eigenen Server zu ziehen, und WordPress auszuprobieren (welches auch heute noch auf dem Irgendlink-Server zum Einsatz kommt). Ach hätte ich nur geahnt, dass das der Beginn meiner Zer-Ichung war. Anfänglich gab es tatsächlich nur eine einzige Seite, eine einzige Internetidentität, ein einziges, gutes, gediegenes Ich, hinter dem noch echtes Fleisch und Blut stand. Was ist daraus geworden? Mittlerweile betreibe ich ca. zehn verschiedene Webseiten, habe das Ich in mindestens drei unterschiedliche, mehr oder weniger reale Identitäten gesplittet, wobei Monsieur Irgendlink, moi-même, noch verdammt nah dran ist an dem guten alten Blogger von einst.

Um voran zu kommen im Netz und mithalten zu können, ja, um überhaupt wahr genommen zu werden – so suggeriert man uns täglich – müssen wir bei diesem oder jenem sozialen Medium unbedingt vertreten sein. Die Blogsoftware macht es glücklicher Weise einfach, mittels Share Buttons (Teilen-Schaltflächen), das eigene Blog, bzw. die Einzelartikel zu verknüpfen, so dass eine Verschneidung der Sphären oder besser gesagt, eine Verknüpfung, nicht das Problem darstellt. Schwieriger wird es körperintern, also auf die Person aus Fleisch und Blut bezogen, die man einmal war, das ganze zu verstehen. Der Homo Fleischikus Blutiensis nämlich kennt nur sich selbst, er greift mit der linken Hand rüber zur rechten und spürt, ah, du bist noch da. Sein Hirn jedoch erlaubt die Zersiedelung. Das macht ein Rollenspiel möglich und die Technik unterstützt ihn dabei.

Aus Eins mach‘ Viele – inflationäre Ich-Vermehrung bringt den Homo Discolonius hervor

Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, heutztage, in die Unzahl von Möglichkeiten hineinzuwachsen? Wie ist das Leben einer Person, die nie gelernt hat, Ich zu sein, weil sie sofort viele Ichs sein konnte. Weil sie dem Kampfnamen Dragor bei WOW antritt, auf Twitter sich @bumsdiddelda nennt, in Facebook den Namen verwendet, der in der Geburtsurkunde steht, zum Beispiel Kevin_Müller148, ein Xingprofil hier, ein Katzenblog betreibt unter wundervollegruenekatzen.wordpress.com … und sich überall regelmäßig einloggen muss, überall seine Rolle finden muss, Kreise schließen, Freundschaften? Obendrein den massiven Forderungen, die die jeweiligen Systeme an ihn (oder besser an die vielen Ichs) stellen, gerecht zu werden, wie fühlt sich das an? Denn eins ist klar, wer sich einer Community anschließt, der muss ihr auch dienen. Er muss sich den Manipulationen unterwerfen, die die digitalen Plärrplattformen im Netz ihm angedeihen lassen, muss die Werbung verinnerlichen, die man ihm ins Hirn reibt.  Eine Zerreißprobe.

Ich Irgendlink moi-même beendet nun diesen Artikel. Er muss sich als Heiko Moorlander bei Facebook einloggen, vorher noch schnell nen Twitterspruch als @irgendlink, mal schauen, was die Ebook-Umsätze so machen, unbedingt ein Bild posten auf einer Polanoid-Retro-Community … so verbleibe ich ich ich ich denn mit einem dreifach schallenden „wir mailen“.

 

Bilder für die Ewigkeit – Strecke der Kunststraße ins MOM Archiv Hallstatt

Die Reise ins Archiv des Memory Of Mankind Projekts in Hallstatt kriegt ein Gesicht. Wie gehabt, setze ich das Kunststraßenkonzept ein, das ich seit 1994 auf fast allen Radelreisen anwende, um dem live gebloggten virtuellen Kunstprojekt eine Struktur zu geben. Alle zehn Kilometer schieße ich ein Foto der bereisten Strecke, berichte über den Reiseverlauf, kreiere während der Reise die Kunstwerke, die, getreu dem iDogma, vom Smartphone direkt zum „Endverbraucher“ kommen. Ein Einblick in die Arbeitsweise des Kunststraßenbaus findet Ihr auf der Portfolioseite für die letztjährige Kunststraße „UmsMeer„, bei der ich vier Monate unterwegs war. Die Geschichte des Kunststraßenbaus von den analogen Anfängen bis zur mobil-virtuellen Gegenwart wird auf der Kunststraßenseite erzählt.

Noch ist das kommende Projekt mit dem Arbeitstitel „Bilder für die Ewigkeit“ im Planungsstadium. Der Zeitrahmen und die unten abgebildete Strecke sind noch nicht zu hundert Prozent „festgeklopft“ (im Grunde arbeiten wir Konzeptkünstler ähnlich wie Bildhauer, nähern uns in verschlungenen Denkschleifen dem Endprodukt).

Im Fall werden ca. hundertzwanzig Keramikfließen erstellt, die im Salzstock in Hallstatt über tausende Jahre sicher lagern. Die einzigen Duplikate gehen in einer Ausstellung auf Wanderschaft und können käuflich erworben werden. Martin Kunze vom MOM unterstützt das Projekt mit seiner Keramikwerkstatt.

Eigentlich ist das Memory Of Mankind Archiv nur sechshundertfünfzig Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Die geplante Strecke versucht, den Flüssen zu folgen – ein Stück die Saar hinauf, bei Saareunion am Rhein-Marne Kanal entlang in die Europametropole Straßbourg. Hinauf zur Brigachquelle im Schwarzwald, runter zur Donau – man wird es aus dem Erdkundeunterricht noch kennen: Brigach und Breg bringen die Donau zu Weg – In Donaueschingen durchs Lechtal – irgendwie rüber nach München. Salzburg, Salzachradweg, und dann am Tennengebirge entlang nach Hallstatt.

Da es sich bei Memory Of Mankind um ein für die Archäologen der Zukunft höchst interessantes Archiv handeln dürfte, möchte ich der avangardistisch künstlerischen Bilder- und Textserie auch einen wissenschaftlich wertvollen Touch geben, indem ich die Kulturwege (z.B. die französischen Kanäle) und Verkehrsverbindungen unserer Zeit fokussiere.


Größere Kartenansicht

 

Bilder für die Ewigkeit

Hundertzwanzig Bilder für die Ewigkeit, archiviert im Weltkulturerbe in Hallstatt, in gewagter Livereise kreiert und direkt aus dem Smartphone in ein Hochsicherheitsarchiv übermittelt. Eine Idee, die wahr gemacht werden kann, muss unbedingt umgesetzt werden. Schon am zwanzigsten Juli soll es losgehen. Ich habe mich mit dem faszinierenden Archivprojekt Memory of Mankind (MOM) zusammengetan für eine konzertierte Livereise-Tour. Im diesjährigen Sommerurlaub wird wieder live gebloggt ala Nordseeumrundung und Jakobsweg 2.0. Ich will von Zweibrücken ins Weltkulturerbe Hallstatt in Österreich radeln, alle zehn Kilometer ein Streckenfoto schießen und unterwegs wieder ein live geschriebenes Buch verfassen. Unter dem Spannungsbogen Ewigkeit trifft Gegenwart wird mit Witz und Spritz am Mythos Vergänglichkeit gekratzt. Alle sind herzlich eingeladen die Reise in diesem Blog zu verfolgen. MOM brennt hundertzwanzig unikate Kunstwerke, die allesamt in den Salzstöcken von Hallstatt archiviert werden. Auch die Texte sollen archiviert werden.