Die beiden Salzburgs auf einem riesigen Teller aus Granit

Vierspurig führt die Bundesstraße von Freilassing nach Salzburg. Der Radweg läuft zunächst direkt daneben. Kurz nach der Grenze zweigt er ab und folgt der Salzach – theoretisch. Wegen Bauarbeiten muss ich auf die Hauptstraße zurück. Durch Wohngebiete erreiche ich schließlich Salzburg. Besser gesagt, die beiden Salzburgs. Es gibt eine rechte und eine linke Altstadt. Just als ich vor einem Terrassenrestaurant das Radel an ein Geländer kette, spricht mich ein braungebrannter Typ an, will Geld. Nur fünfzig Cent. Gleich um die Ecke am Brückenkopf sitzt eine Frau, die den Becher hochhält. Die Stadt ist übersät mit Touristen und Bettlern. Die Touris schwenken die Kamera, die Bettler die Becher. Ich fühle mich an Boulogne erinnert, letztes Jahr, als mir jemand zwei Euro abschwätzte und später goldene Uhr tragend aus einem Restaurant kam. Also gebe ich dem penetranten Kerl nichts – muss er nicht penetrant sein, wenn er was erreichen will?

Durch eine enge, steil ansteigende Gasse mit seitlicher Treppe steige ich zum Kapuzinerberg in der rechten Altstadt auf, um mir Überblick zu verschaffen. Im Abstand von vielleicht fünfzig Metern stehen drei Frauen, Handys am Ohr. Ein eigenartiges Bild. Ich stelle mir vor, das geht immer so weiter, bis ganz oben. Der Kreuzweg der Moderne. Neben der Treppe sind kleine – ja, wie nenn ichs? – Kapellchen, in denen mit Skulpturen christliche Szenen nachgestellt sind. Oben angekommen wartet Jesus, am Kreuz hängend, mit zwei Leidgenossen. Ein Kapuzinermönch mit Kutte steht vorm Eingang zur Kirche. Der Berg scheint wie ausgehöhlt, Kapellen und Hauseingänge, Treppen und Aussichtspunkte.

Auf der anderen Seite steige ich ab zum Mozartsteg, rüber in die linke Altstadt. Gassenschluchten, Bürgerhäuser, Pracht, ein Bettler im Rollstuhl, dem beide Beine fehlen. Die Stummel kurz unter dem Knie hat er dekorativ mit Binden eingewickelt. Ein Unfall? Raucherbeine? Ich weiß es nicht. Wie zwischen Mühlsteinen komme ich mir vor. Ein Stein heißt Tourist, der andere Bettler. Wenn ich die Stadt neu sortieren dürfte, würde ich die Bettler alle in die rechte Altstadt schicken, die Touristen, Anwohner und mich in die linke. Dann müssten alle, die zu viel haben, es auf die Brücke legen: Goldene Uhren, Kreditkarten, Geld, Schmuck, alles Überflüssige kommt auf die Brücke, wo es an die, die zu wenig haben, verteilt wird. Dann Restart World. So phantasiere ich ein verqueres Bild unter dem damoklesken Pendel, dass es so viel Elend gibt und gleichzeitig soviel Überfluss. Als ob der Mangel an Materiellem das Problem wäre – ist es nicht eher das Symptom? Problematisch ist, dass ohne Überflüssiges die derzeit gelebte Wachstumsgesellschaft in sich zusammenfallen würde. Somit ist Überfluss, Luxus, Luxusgüter, in Restaurants einkehren und all das, was eigentlich nicht zum Leben nötig ist, für das Überleben des Systems, in dem wir teilnehmen, zwingend notwenig. Genauso vielleicht, dass auch ein gewisser Prozentsatz durchs Netz rasselt. Schwermütige Gedanken.

Ein Fiaker biegt um die Ecke unweit der juristischen Fakultät. Mitten in der Fußgängerzone Kutsche fahren! Mach‘ das mal in Zweibrücken, dort steigen dir die Anwohner aufs Dach, wenn du das tust. Touristen im Fond, Kutscher auf dem Bock, zwei Pferde, die er mit leisen Pfiffen dirigiert. Die Kutsche hat sogar ein Kennzeichen. Ich zücke die Kamera. Halte drauf. Das darf mir nicht entgehen, genau wie die lebende Mozartstatue ein paar Meter weiter. Das Besondere ist immer nur für kurze Zeit besonders.

Als ich den Domplatz erreiche, kommen drei Fiaker voller Touristen entgegen und direkt vor dem Dom steht ein ganzes Dutzend, wartend auf Touristen, und Maler mit Staffeleien, die dich wahlweise karikieren, oder dir Landschaftsbilder anbieten oder Salzburgansichten in Pastell. Noch ein Mozart, gefolgt von einer Mozartin in türkis. Immer, wenn eine Münze fällt, beugen sich diese lebenden Statuen nach vorne und bedanken sich. Einer ist dennoch besonders. Er scheint geradezu zu schweben, hat sich einen Kragarm gebaut, der ihn wie ein Kran über dem Pflaster schweben lässt. Trauben von Touris davor. Auf dem Markt kaufe ich eine Pfefferwurst, eine Postkarte, die die linke Altstadt zeigt. Briefmarken auf der Post. Echtes Mozartdenkmal. Die Sonne steht genau entgegen. Man müsste drehbare Denkmäler bauen, die sich mit der Sonne wenden, damit man immer schön fotografieren kann. Oder am besten drehbare Städte. Die beiden Salzburgs auf einem riesigen Teller aus Granit, das wärs. Der Domplatz ist unbefestigt. Einfacher, feiner Kies. Das hat Stil. das ist mutig. Eine Rockbühne wird gerade aufgebaut. Ich scharwenzele durch die Gassen zurück zum Salzachufer, binde das Radel los, braves Pferdchen, und fahre weiter nach Hallein.

Der Radweg heißt hier Tauernradweg. Auf Schildern an der Straße sehe ich Villach ausgeschildert. Bin ich so nah, oder denken die hier so ‚weit‘. Ich habe keine Erinnerung mehr, wie groß Österreich eigentlich ist. Wieviele Kilometer bis zu den Tauern? Der Weg macht Lust auf Weiterradeln. In Hallein ist die bettlerdichte geringer. Ein Kerl im Rollstuhl, keine Ahnung, ob das stimmt. Seine Beine wirken muskulös. Egal. Wer bettelt schon gerne?

Schwebender Mozart lebende Statue in Salzburg

Tag 12 – Tagesstrecke und Nachtlager

Heute hat Irgendlink hohe Berge erklommen. Sein Zelt hat er für einmal in einer praktisch netzfreien Gegend aufgebaut. Per SMS hat er mir die Koordinaten übermittelt und telefonieren geht heute nicht.

Mir wird bewusst, dass dieses Projekt hier nur dank guter Netzwerke möglich geworden ist. Virtuelle Netzwerke, aber auch Netzwerke von Mensch zu Mensch.

Die vorerst letzte Zeltnacht verbringt er in der Weitenau, wo sich Fuchs und Has gute Nacht sagen. So ungefähr sieht es dort aus: hier klicken. (Geht nur mit Flash, ein bisschen warten, bis sich das Bild aufbaut …)

Die heutige Strecke sieht ungefähr so aus: Streckenlink.

Morgen werden wir uns gegen Abend in Bad Goisern treffen und am Freitag das Memory of Mankind-Archiv besichtigen. Fortsetzung folgt … :-)

R. I. P. Fichte

Gefunden vorgestern im Mangfalltal.
Nun durchs schnelle Mobilnetz Freilassings hochgeladen.

Detailaufnahmen einer Fichte im Mangfalltal
Ca. dreißig Meter lang, aufgebart an der Via Julia.
Text über die Fichte

Zeit für Zeit

Nun bin ich wohl in meiner Blase der Gegenwärtigkeit angekommen. Die Beine laufen in ruhigem Takt. Es gibt viel Moment, eingebettet in ein bisschen Zeit voraus und ein bisschen Zeit zurück. Der moderne Mensch hat oft gar keine Chance gegenwärtig zu leben. Wie ein Rudel Wölfe, die dem Terminkalender entsteigen, zerrt mal dies, mal jenes an ihm und reißt ihm Stück um Stück das Fleisch von den Knochen. Leben wir in einer Zeit der in Portionen zerschnittenen Zeit? Was überhaupt ist Zeit? Wer hat sie gemacht? Haben wir sie nicht selbst erfunden? Kennen Tiere Zeit? Empfinden sie die ‚fliehenden Stunden des Lebens‘?

Von Kirchturm zu Kirchturm radele ich, schon seit München, alle paar Minuten ein kleines Dörfchen. Früher, habe ich einmal gehört, gab es keine synchronisierte Zeit. Es ist zwar lange her, aber es konnte einem passieren, dass im einen Dorf die Uhr acht schlug, im anderen elf. Mittlerweile ist der gesamte Planet mit Zeitzonen genormt, mit Umrechnungsfaktoren, damit man auch weiß, wie der Lebenstakt selbst im entferntesten Winkel des Planeten läuft. Im Mangfalltal, das gut fünfzig Kilometer lang hinunter führt zum Inn, wurde mir dieser Zeitirrsinn klar. Als ich am Bach lagerte und in die silbrigen Wellen starrte und die Sonne senkrecht über mir stand und sich scheinbar nicht bewegen wollte, stellte ich mir vor, ich würde sooooo laaaaangsaaaam denken und handeln und sprechen, dass ich nur noch in Zeitlupe wahrgenommen würde. Ganz klar eine Ausgeburt der stechenden Sonne. Später, in Rosenheim am Inn, war der Spuk schon wieder vorbei. Aber mein Hirn hatte sich verselbständigt und beschäftigte sich mit Zeit. Habe ich vor dieser Reise je intensiv über eine so große Zeitspanne, wie die Ewigkeit gegrübelt, sie gar empfunden? Das, worüber man beginnt nachzudenken, kann man auch irgendwann empfinden. Kratzen an der Tür zur Ewigkeit. Der Mensch beschäftigt sich doch normalerweise nur damit, was unmittelbar bevorsteht und was eine Lebensspanne zurückliegt. Bei den Großeltern hören für die meisten die Ahnen doch auf. Und die Zukunft endet mit dem frischesten Termin im Kalender: Sommerurlaub 2014, Goldene Hochzeit der Eltern 2015?

In Wasserburg mündet die Mangfall in einem Park in den Inn. Unter einer Brücke sprayen hochoffiziell einige Jungs die Betonwand im Auftrag der städtischen Galerie. Im Park ist das Inn-Museum ausgewiesen auf mannshohen Stahlplattten, die Tiere, Menschen, Kähne darstellen. Ich stelle mir das Museum vor als einen Tunnel, der unterm Inn hindurch führt mit einer gläsernen Decke, so dass man sich den Fluss von unten betrachten kann. Ein Gewitter geht nieder. Vor einem griechischen Restaurant stelle ich mich unter, gemeinsam mit einem spitzbärtigen Radler, der in einer völlig fremden Sprache telefoniert. Viertel Stunde. Dann gehts zur Sache. Die beiden Radler, die mir die Via Julia erklärt haben, hatten sich wohl geirrt: die schlimme Strecke beginnt in Rosenheim. Bis rüber zum Chiemsee muss man ständig auf und ab. Es gibt offenbar keine Täler, sondern nur ein Gemenge aus Hügeln, Wiesen, dazwischen einzelstehende Gehöfte, keine klare Bachstruktur mit Dorf auf Dorf. Im Hintergrund im Süden wie eine Wand die Alpen. Ab dem Chiemsee wird es wieder flacher. Ich folge dem Seeweg, bis Chieming, dann nach Traunstein, eine Weile der Traun entlang rüber zur Salzach. Hier ist die Welt wieder in Dörfer gegliedert. Jedes Dorf war früher ein in sich geschlossenes System aus Menschen, die, als die Welt noch nicht globalisiert war, aufeinander angewiesen waren.

Die Menschheit wächst rasant. Doris Lessing schreibt in ihrem Roman Mara und Dann von dem sogenannten Interregnum. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine Zwischeneiszeit handelt. Ein Interregnum dauert etwa 12.000 Jahre, steht im Vorwort des Buches, und es markiert den Zeitraum, in dem die Eisflächen sich zurückziehen auf die Polkappen und die Erde halbwegs bewohnbar ist. Verglichen mit dem Alter der Erde eine winzige Lücke, in der Zeit ist, Hochkulturen zu entwickeln. Das Rad zu erfinden. Werkzeuge, Waffen, Götter zu schaffen. Kriege zu führen. Andere zu unterwerfen, sich ihr Wissen und ihren Besitz zu eigen zu machen. Hie und da eine Hochkultur wachsen und wieder vergehen zu lassen.

Kann man den Planeten 2013 als Hochkultur bezeichnen? Nie waren wir so entwickelt wie heute. Die menschliche Gesellschaft kommt mir vor wie eine riesige Pumpe, mit der Güter, Waren, Geld und Ideen hin und her gepumpt werden und sie wird immer schneller und präziser. Alles, was wir heute an Wohlstand und Zivilisation haben, ist kaum älter als ein paar zigtausend Jahre. Bedeutet das, wenn es kaputt geht, dass es sich jederzeit wieder entwickeln kann?

Nun zelte ich auf einer Wiese am Waldrand unweit von Freilassing. Taktisches Radreisen bzw. Kunststraßenbauen. Gestern hätte ich noch dreißig Kilometer weiter radeln können, aber da ich mir Salzburg in Ruhe anschauen möchte, habe ich getrödelt. Es ist nie gut, eine so große Stadt in den Abendstunden anzulaufen, wenn man nicht gerade im Hotel oder der Jugendherberge absteigen möchte. Die guten Zeltplätze sind numal draußen vor den Toren. Noch zwei Tage bis ins Memory of Mankind-Archiv. Freitag gibt es einen Pressetermin und anschließend geht es mit der Schmalspurbahn in die Tiefe des Salzstollens. Keramiken sind nun doch noch keine produziert. Es gibt noch zu viele Unwägbarkeiten – insbesondere ist die Auflösung der Collagen-Bilder direkt aus dem Smartphone ein bisschen schwachbrüstig und der Farbraum sollte CMYK sein. Die Menschheit muss sich erst noch ein bisschen entwickeln, bis auch das kein Problem mehr sein wird.

Tag 11 – Tagesstrecke und Nachtlager

„Um mir morgen Salzburg in Ruhe anschauen zu können, hab ich rumgetrödelt. Bin gut erholt in der Nähe von Freilassing,“ schreibt Irgendlink um halb neun schon. So früh hat er sich noch nie irgendwo niedergelassen. Weil er nur noch zwei überschaubare Tagesetappen vor sich hat und zudem weiss, dass ihn Donnerstagabend in Bad Goisern ein weiches Bett erwartet, kann er sich diese Rumtrödelei erlauben. :-)

Auch Pause muss mal sein. Darf. Soll. Und eine Stadt wie Salzburg darf man schließlich nicht einfach links liegen lassen.

Zum heutigen Streckenlink hier klicken.

Die ganze bisherige Strecke auf einen Blick:

Screenshot Reise Bilder für die Ewigkeit