70 mal 365 mal 20, optimistisch geschätzt, wenn ich nur noch radeln würde und die Welt erkunden und darüber schreiben und mein Leben ändern, utopisch, ich weiß, aber mit der Vorstellung, auf den Sattel zu steigen, sich treiben zu lassen und seinem ‚Kerngeschäft‘, reisend zu bloggen nachzugehen, darf man ja mal spielen. Okay 70 Kilometer am Tag ist auch schon Phantasie. Man wird älter und müder und bequemer und man wird grundsätzlich aufgehalten. Im Fahrradsattel, unterwegs. Vielleicht nur 50 pro Tag? Es gibt ja so viel zu sehen unterwegs.
Das Wunder Welt als Antagonist der Bestie Mensch.
Ich muss mich sputen in meinem Bestreben, absolute Langsamkeit zu erfahren. Absolute Langsamkeit ist Gegenwärtigkeit. Und Gegenwärtigkeit ist Ewigkeit. Und das ist ein elendes Paradox. Wenn es dir nicht gelingt, die nötige Langsamkeit zu erlangen, um Glück wahrzunehmen, bist du gescheitert. Wenn du dich beeilen musst, langsam zu werden, so langsam, wie du es für nötig erachtest, setzt du diese elenden Gegenkräfte in Bewegung, die genau das, was du erreichen willst, vereiteln.
Das Jahr 2017 hat mir so bitter eingeschenkt, wie kein anderes Jahr je zuvor. Seit Monaten denke ich, wo ist endlich unten, ganz unten, wann bin ich endlich da. Wann kann ich mir die Wände des Lochs anschauen und nach Ritzen und Tritt- und Griffpunkten suchen, um wieder hinaufzusteigen?
Bestie Mensch, Antagonist im Protagonistenmantel.
Die Bestie Mensch manifestierte sich Anfang des Jahres mit der Wahl des Unsäglichen in den USA, legte konsequent nach mit dem Unschuldige-Journalisten-Einknaster vom Bosporus, zeigte sich in etlichen, vermeintlichen Freunden, ganz klein und im Privaten, in denen ich mich massiv getäuscht hatte und ging auf die Zielgerade mit einer diffusen Erkenntnis von einer Art Gesinnungsströmung, in der sich die weltweite menschliche Gesellschaft befindet, die sich darin äußert, dass die Starken die Schwachen mit allen Mitteln klein halten, drangsalieren, niedermetzeln, ausrotten.
Das perfide Glyphosat, das derzeit in den Medien ist, schien mir heute Morgen ein gutes Symbol, wie es läuft. Völlig abgekoppelt von den nackten Tatsachen, dass es ein Vernichtungsmittel für jedwedes Grünzeug ist, sehe ich es als das, was es ist, ein Bild für den Umgang der Bestie Mensch mit der Umwelt und mit anderen Mitgliedern der Bestie Mensch. Auch ich bin ja ein Mitglied der Spezies Bestie Mensch. Nur dass ich nachdenke und mir überlege, wie kann ich Bestie möglichst schonend und ohne anderen Bestien auf die Füße zu treten, koexistieren auf dem Planet der Bestien.
Naiv. Ich weiß. Wenn ich in meine Vergangenheit zurückdenke, merke ich, wie naiv ich schon immer war, wie blümchenträumend, das Miteinander zu etwas Schönem zurecht denkend, ich immer handelte. Da sind Kleinigkeiten wie, sich im Laden an der Kasse hinten anstellen. Nicht nach vorne rempeln und auf seinen Profit hecheln. In den letzten Tagen habe ich mehrere Vordrängelsituationen erlebt. Nichts gesagt. Nur darüber nachgedacht und mich gewundert, dass es früher, vor zehn, zwanzig Jahren doch anders war, dass derjenige, der an der Kasse fälschlicherweise vor einem früher Dagewesenen bedient wurde entschuldigend sagte, äh, ich glaube, der Mann, die Frau war früher da. Nun Fehlanzeige.
Ich sollte drängeln und die Ellenbogen auspacken. Aber das ist nicht mein Ding. Für die heutige Welt bin ich eine Fehlkonstruktion, zum Untergang verdammt.
Sie haben alle ihre Mittel und sie verwenden sie. Sei es greifbares Gift, das man in der Gärtnerei kaufen kann, oder sei es das Gift in ihnen, das sie Kraft des Miteinanders (welch Hohn, Miteinander. Wer? Wir? Wir gibt es nicht mehr, es gibt nur noch die, die und die und die sind sich mit denen spinnefeind …), Gift, das sie (oder wir alle) in uns selbst herstellen und es gegeneinander einsetzen.
Die deutsche Autobahn ist ein Gemetzel. Ich glaube, Autobahnfahren lässt einen den Umgang miteinander am intensivsten erfahren. Da gibt es keine Gerechtigkeit. Da herrscht das Gesetz der Wut, des Affekts, Feindschaft in Reinkultur.
Ende 2016 gab es zwei Bilder, die sich mir eingeprägt haben. Der Wahlkampf in den USA wurde bis aufs Messer geführt. Das eine Bild zeigt den jetzigen Präsidenten, wie er während einer Wahlkampfveranstaltung einen beeinträchtigten Journalisten vor tausenden seiner Anhänger blamierte, ihn nachäffte, sich lustig machte über dessen Sprachfehler – wie so ein Kind im Kindergarten, das sich über ein anderes Kind lustig macht und die dröge Masse auf seiner Seite weiß. Nur eine Situation, die aber ähnlich wie das derzeit in den Medien geisternde Pflanzengift zeigt, wie viele unserer Spezies Bestie Mensch ticken. Dem Bild gegenüber steht das seines Amtsvorgängers, der in einer vergleichbaren Situation – Rede vor vielen Menschen – mit einem querelenden Kerl konfrontiert wurde, der seine Rede störte. Schon hatten einige seiner Anhänger den Typen, einen Veteranen, in die Mangel genommen und wollten ihn rüde aus dem Saal werfen, da gebot er Einhalt und sagte, lasst ihn, lasst den Mann reden, tut ihm nicht weh, hört ihm zu. Großartig. So geht souverän. So ist erwachsen. Es aushalten, es sachlich angehen, deeskalieren, Frieden stiften.
Ich weiß nicht, ob ich die beiden Bilder richtig wiedergebe. Ich war nicht dabei. Ich kenne sie nur aus den Medien und ich habe sicher bei beiden Beispielen meine eigene Interpretation einbezogen. Aber ich denke, dieses Bildpaar ist ein Hinweis, wie die Welt derzeit tickt und wie, mit besonnenen, reifen, intelligenten Gewählten die Welt ticken könnte.
Deprimierend, dass alle Zeichen dafür stehen, dass sich die unreife, gewalttätige, eskalierende Form durchzusetzen scheint.
La Bête et moi
Zurück ins kleine Ich. Hilflos beobachte ich das Wirrwarr der Welt und stehe völlig machtlos den großen Mechanismen, die auf uns alle und auf mich einwirken gegenüber. Vieles ist nicht in Ordnung. Die Grundströmungen habe ich in den beiden Bildern grob skizziert. Sie sind da. Und die gemeine, menschenverachtende ist definitiv im Voranschreiten und mit jedem Meter, den sie gutmacht, schwächt sie die besonneneren, feinfühligeren Typen, die sich nicht an Supermarktkassen vordrängeln, Leute, die nicht die schwächeren oder unachtsameren Verkehrsteilnehmer auf den Straßen wegrüpeln – ich könnte ja auch anders, ich könnte mein Recht einfordern an den Kassen dieser Welt. Wenn mich jemand rempelt, könnte ich zurückrempeln, aber dann müsste ich ja auch andere rempeln, die das nicht können, die unterliegen. Die weltweite Rempelei kennt keine Gnade. Sie erzeugt Schwache und Starke und wer stark sein will, muss manchmal Schwache unterdrücken, auch wenn es ihm noch so gegen den Strich geht. Die anderen ‚Starken‘ machen ihn zum Verlierer unter vermeintlichen Gewinnern, wenn er nicht mitspielt. Stark sein unter einem Gemenge aus Starken und weniger Starken und der Schwäche widerstehen, sie niederzumetzeln: so verdammt schwer.
Es herrscht vermutlich Krieg. Auch wenn diese Behauptung sicher etwas zynisch wirkt. Die Gewalt ist nicht offen. Sie ist nicht so gewalttätig wie in einem echten Krieg mit Schusswaffen. Aber sie ist da. Durch die Erfindung der großen Meinungsmaschine mit den wuchtigen Waffen von Shitstorms und der Desinformation haben wir eine Art virtuelle Kriegsszenerie ins Leben gerufen. Es sind nur Worte und Schmutz, aber in unseren Köpfen wirken diese Worte und vernebeln den Blick auf die Realität.
Vielleicht könnte ich in den nächsten zwanzig Lebensjahren noch ein paar mal rund um den Planten radeln und drüber schreiben. Schizophrener Weise könnte ich auch daheim am PC sitzen und mir den virtuellen Planeten betrachten, mir ein Bild von der Welt machen, es glauben, danach handeln. Ich könnte vom heimischen PC aus ermitteln, wie die Inder so drauf sind, die Chinesen, die Perser, die Muslime, die Christen, Juden, Buddhisten. Aber was für ein Bild erhalte ich, geschützt durch den Monitor? Die Elsässer zum Beispiel, erfuhr ich vor anderthalb Jahren, wählen stark den Front National. Das heißt, wenn ich als Fremder ins Elsass reise, muss ich damit rechnen, dass man mich argwöhnisch beäugt, mir missgünstig gegenübersteht, mich bei der Polizei anzeigt, wenn ich in einem Bushäuschen übernachte, weil ein Gewitter über dem Land liegt, ha, wenn ich Glück habe, wenn ich Pech habe, greift mich meine imaginäre, auf Basis meines Webwissens zusammen geschusterte Bürgerwehr auf und verprügelt mich. So läuft das im Elsass. So und nicht anders. Genauso ist es auch mit den arabisch aussehenden Typen, die sich in kleinen Gruppen auf den Plätzen meiner Stadt zusammenrotten. Die berauben mich und vergewaltigen meine Frauen. So will es das Internet. So glauben wir das, ohne uns auf unsere Gegenübers einzulassen.
Anfang 2016 durchradelte ich das Elsass und begegnete keiner einzigen Bürgerwehr. Die Menschen waren durchwegs nett, luden mich zum Übernachten bei sich ein, richteten mir ein Bett, gaben mir Essen und trotz sprachlicher Komplikationen redeten wir über dies und das, ganz normal und ohne Argwohn. Ich war ein Fremder, der in Teilen wie ein Penner aussah, aber aus der Situation geboren doch vertrauenswürdig genug, dass man ihn in seinem Haus beherbergte und ihn speiste. Fast christlich das. Und nicht nur einmal.
So wünsche ich mir die Welt. Eine Welt voller Individuen, die einander vorurteilsfrei begegnen, herausfinden, ob die ‚Chemie‘ stimmt, sich aufeinander einlassen, einander bedingungslos helfen, am nächsten Tag Tschüss, gute Reise wünschen und vielleicht noch fragen, darf ich dir ein Butterbrot mit auf den Weg geben. Und dafür wären diese 70 mal 365 mal 20 Kilometer gut, die ich – bei guter Lebensführung und Gesundheit – noch reisen könnte. Darüber zu berichten und den Molloch aus Argwohn zu bekämpfen, der sich im virtuellen Kampf Bestie gegen Bestie zusammenmobt.