Abgehängt | #kursnord

Es gibt stillere Orte in Schweden als Härnösund. Auf dem zwei Kilometer östlich der Stadt gelegenen Campingplatz hört man Tag und Nacht ein Grundrauschen wie von einer Industrieanlage und verflixt, ich möchte meinen Hintern verwetten, dass da auch eine Industrieanlage dahinter steckt. Fast komme ich mir vor wie daheim in Deutschland. Nur eben: dort ist es ganz natürlich, dass irgendwo immer etwas rauscht und rumpelt. Hier nicht. Zwei Einwohner pro Quadratkilometer, recherchierte Frau SoSo in einem Artikel über Lappland. Und Lappland ist schon verdammt nah. Wo genau es beginnt und aufhört, darüber streiten sich die Geister. Die Einen sagen, nördlich des Polarkreises und der dürfte noch drei vierhundert Kilometer entfernt sein. Aber die Vernunft sagt, Lappland ist wie jedes Land so unförmig, dass man es nicht an einer geraden Linie beenden oder beginnen kann (okay, ich glaube, der Bundesstaat Idaho in den USA ist eines jender Länder, dessen Grenze tatsächlich exakt Breiten- und Längengraden folgt.Wir haben uns treiben lassen bis hierher zu Hohen Küste, Weltnaturerbe der Unesco seit mittlerweile zehn Jahren, soweit ich mich erinnere. Eine gute Woche unterwegs. Fast 2500 Kilometer in den Knochen. Autofahren in Schweden, nimmt man einmal die Region um Stockholm aus, ist unheimlich entspannt. Wenn nicht anders angegeben, darf man auf Landstraßen 70 fahren, auf Autobahnen 110 und innerorts 50. Innerorts ist jedoch sehr oft auf 40 oder gar 30 reduziert und auf Autobahnen öfter auf 90 oder 80, statt auf 120 erhöht. 120 ist die höchste Geschwindigkeit, die wir bisher erlaubt-gesehen haben. Nur rings um Stockholm rasen einige Hasardeure mit bis zu 130 Sachen an einem vorbei. Es wird so gut wie nicht gedrängelt, bisher nie gelichthupt und die Hupe kommt tatsächlich dafür zum Einsatz, wofür sie von Gott geschaffen wurde: als Warnsignal. Nix Strafhupen, Zwangsausbremesen, Drangsalenabdrängen und Dichtauffahrmaßregeln wie im heimischen lovely lovely Deutsche-Autobahn-Gemetzel. Ich erinnere mich an einen Schweden, dem wir 2011 auf einer Skandinavien-Tour begegneten, der von seinem Auto-Trip nach Italien erzählte und uns sagte, nie wieder Deutschland per Auto. Zu groß das Gemetzel, zu rücksichtslos manche Autfahrer. Exakt beschrieb er das, was bei uns vorgeht als gigantische Malm-Maschine, in der die ganz normalen, vernünftigen Leute zwischen irrsinnigen Allmachtsrasern und dem drögen, ganz normalen Transportmuli namens LKW zermahlen werden. Die Autobahn ist der Ort, an dem man die Zerreißprobe, in der sich unsere Gesellschaften befinden, am deutlichsten erkennen kann. Manche Leute werden einfach abgehängt.

Aber auch Schweden folgt diesem Trend. Es ist ja nicht nur die Autobahn, auf der das Elend des Zerreißens sich physisch erlebbar manifestiert. Vor ein paar Tagen südlich von Stockholm kamen uns auf einer stark befahrenen Einfallstraße zwei vermutlich Äthiopier entgegen. Zu Fuß mit Plastiktüten. Im Straßengestank im Lärm. Vermutlich Flüchtlinge. Wieso zu Fuß auf der Strecke? Waren sie einkaufen? Sie trugen prall gepackte Tüten. Haben sie den Bus verpasst? Oder wahrscheinlicher: keine Kreditkarte, um ein Busticket überhaupt zu kaufen. Ich weiß es nicht und auch Frau SoSo und ich stehen ja verdammt nah am Abgrund und sind, rein finanziell schon fast abgehängt. Wir haben nur Bankkarten, mit denen man zum Beispiel auch nicht im ÖPNV bezahlen kann. An allen Parkautomaten, die wir bisher gesehen haben, sind die Schlitze fürs Münzgeld zugeschweißt und man kann nur noch mit Karte zahlen. Wir haben nun einen Zettel an der Windschutzscheibe mit der Aufschrift, unsere Karte wird nicht akzeptiert, tut uns leid und fahren falschparkend nordwärts. Besonders dramatisch wurde die Situation kürzlich in Uppsala, wo wir einen frühmorgendlichen Stopp einlegten, durch die Stadt bummelten, in einem der wenigen vor 10 Uhr schon offenen Cafés ein kleines Frühstück – per Karte bezahlt – einnahmen. Im Cafe gab es aber keine Toilette. Erst in der benachbarten Passage wurden wir fündig. Aber: um reinzukommen braucht es eine Kreditkarte, nix mit schlichter Bankkarte. So standen wir eine Weile, bis uns eine barmherzige Frau milde lächelnd in den Defäkierungstempel einließ und Frau SoSo, deren rebellische Natur mit ihr durchging robinhoodesk beim Hinausgehen mit einem Bündel Toilettenpapier das Türschloss blockierte. Vor laufender Kamera. Überall in der Ladenpassage bleckten runde Überwachungsaugen an den Decken und ich stellte mir einen geheimen Raum vor unterirdisch, in dem eine Armee von Wachleuten auf zig Monitoren die Stadt überwachen: da, sieh an, Kollege Per, wieder so eine Touristin, die es versucht, und schon löst er einen Alarm aus und die Häscher schwärmen aus und über die zahlreichen Kameras, die nicht nur in der Passage hängen, sondern überall in der Stadt, verfolgen sie uns in geradezuer Hollywood-Manier und klick klick, Frau SoSo, das wars, uppsala, Handschellen … ja, genau, das war in Uppsala. Welch wunderbarer Morgenflair die Überwachunsszene umspielte, fast wie der starke Wind, der um die Häuserecken pfiff und die vielen Fahnen überall vor den Geschäften flattern ließ und so manche Werbetafel umwarf. Stadterwachen in einer definitiv von Radlern und Fußgängern dominierten Stadt und wie es sie ins Gewebe presst zur Arbeit, zu Erledigungen, Behördengängen oder einfach nur – wie wir – zum irgendwo was frühstücken und obschon es für unsere Begriffe saukalt war, sah man viele Menschen in kurzen Hosen und T-Shirts im kalten Wind auf dem Fahrrad. Sockenlose Gestalten; gekrönt wurde die ganze Szene von einem glatzköpfigen Monument von Mensch, das an einer sonnigen Stelle unweit des Hallenbads an einer Wand lehnte. Ein glänzender, geradezu polierter Kerl mit einer unheimlich fleckigen Arbeitslederhode, aber obenrum fast nichts am Leib, Morgensonne tankend, nie sah ich rasiertere Glatzen, außer vielleicht bei Vester, dem gutmütigen Bruder in der Addamsfamily-Kommödie. Vor einem Restaurant räumte der Wirt Tischdecken auf die Tische und Aschenbecher. Just als wir an der Tür vorbei flanierten warf er einen schmutzigen roten Fußabstreifer aus. Der rote Teppich des kleinen Mannes. Morgengrüßend grinsend. Dann die wuchtige Kathedrale, deren Seiteneingänge mit SOLCHEN Schlössern versperrt waren, garniert mit einem Bündel von Bettler vor dem Hauptportal.

Handschellen blieben Frau SoSo erspart und auch die Sache mit dem Parkticket ging gut und so trieben wir die letzten Tage auf der E4 weiter gen Norden. Die Straße ist bis etwa Sundsvall durchweg vierspurig ausgebaut, eine ganz normale Autobahn. Nur eben mit eher weniger ganz normalem Verkehr. Zivilisiert. Ab der ziemlich wuseligen Gegend um Sundsvall ändert sich die Landschaft. Die Bäume sind nicht ganz so groß wie südlich und das Klima ist generell rauer. Zudem ist es sehr lange hell. Die Sonne geht hier am etwa 17. Längengrad zwischen 21 und 22 Uhr unter und zwischen drei und vier Uhr wieder auf. Die stundenlange Dämmerung erledigt den Rest. Auf dem Campinplatz in Härnösand haben wir nun unser Zelt stehen und bleiben ein paar Tage hier, um uns die Hohe Küste in Tageswanderungen zu erschließen. 180 Kronen kostet die Nacht, eine Hütte 450 Kronen. Ich erinnere mich daran, wie wir vor acht Jahren stets vor dem Einchecken eine Schmerzgrenze festlegten, wieviel zu zahlen wir bereit sind. Sie lag zwischen 120 und 150 Kronen. Die Gesellschaft hat sich acht Jahre lang weiter aufgebläht und wir sind nicht unbedingt mitgewachsen, dennoch haben wir unsere Schmerzgrenze auf 220 Kronen hochgeschraubt. Bald schon werden wir abgehängt, wenn wir nicht bereit sind, mitzurennen.

Über Uppsala berichtete Frau SoSo vorgestern hier.

Russische Yakwolldecken und  irgendwas mit ‚Nöt‘ zum Essen

„Wolle Militärspaten kaufen? Gummistiefel? Ganzkörpermückenschutz? Hausschuhe? Babbig süßes, längliches, bräunliches Etwas mit der Aufschrift Nötkola?“ Wie ein Drahtgeflecht gewordener Lude steht ein alter Einkaufswagen voller rostiger Spaten vor dem Alles-Laden. Eigentlich wollen wir Brot kaufen, aber die Hoffnung, dass in dem gut besuchten Geschäft auch nur irgendein nützliches Lebensmittel zu finden ist, schwindet mit dem Überschreiten der Türschwelle. Alte, mechanisch zu öffnende Klapptüren. Drinnen ist es düster, bzw. neonbeleuchtet irgendhell und es gibt: alles. Also wirklich alles an Haushaltswaren und Kleidern, was man sich nur denken kann, beziehungsweise, was man hier im schwedischen Outback eben so braucht. Anglerbedarf neben Duftkerzen, Teller und Tassen und so weiter und so fort. Ich nenne diese Läden Alles-Läden und ich liebe sie. Der letzte, den ich besucht habe liegt schon eine Weile zurück: 2016 in den weißen Dörfern Andalusiens auf dem Weg nach Gibraltar und davor, meine ich mich zu rinnern, habe ich den letzten 2015 in Karesuando an der schwedisch-finnischen Grenze besucht. Dort gab es sogar Ganzkörper- Stechmücken-Verhüllungen. Quasi die Burka Lapplands.Hier nun wieder ein Alles-Laden namens Albrecht & (und den zweiten Namen habe ich leider vergessen). Hudiksvall querab. Das ist eine kleine Stadt an der schwedischen Ostseeküste zwischen Gävle und Sundsvall, oder gröber gesagt zwischen Stockholm und dem äußersten nördlichen Zipfel der Ostsee. Die Gegend heißt Jungfrauenküste, verrät uns eine deutsche Auswanderin, die in Axmarsbruk einen feinen Laden betreibt, in dem man Honig und Senf aus eigener Produktion kaufen kann.

Wir haben uns nach einigen Problemen auf dem Campingplatz in Hudiksvall einquartiert, mussten erst lernen, dass um diese frühe Jahreszeit bei Leibe nicht alle Campingplätze geöffnet sind. In Stockholm, vorgestern, scheiterten wir in einem feinen Waldgebiet südlich der Hauptstadt vor der heruntergelassenen Schranke eines hermetisch abgeriegelten und streng videoüberwachten Geländes, weil die Rezeption um 19-Uhr-spät schon geschlossen war und wir telefonisch niemanden erreichen konnten, der uns den personalisierten Einlass-Code verrät. Fast jeder Campingplatz in Schweden hat eine Schranke und fast alle sanitären Einrichtungen sind durch Code- oder Chipkartensystem oder Schlüssel vor Eindringlingen geschützt.

Vor dem Campingplatz in Tullinge, der ganz nahe neben einem muslimischen Friedhof im Süden Stockholms liegt, telefonierte ein eigenartiger Kerl sich die Ohren wund, weil sein Code nicht mehr funktionierte. Man kann immer nur einmal rausfahren mit dem Code und wieder herein. Das heißt, das System verbucht einen als auf dem Camping oder nicht auf dem Camping. Binäres Camping-Chimären-Dasein. Der Mann, der aussah wie ich mir einen japanischen Yakuza vorstelle, war eine Woche unterwegs (in an outlike state, um es mal schrödingeringisch zu sagen) und man hatte ihm den Code unterm Hintern weg geändert. Vielleicht. Dass sich viele seltsame Gestalten in der Gegend herumtreiben, sagte er, dass er sein Auto nur ungern draußen lasse. So entzauberte er den dichten, hügeligen Wald, mit dem wir noch bis eben geliebäugelt hatten, wildzuzelten.

Sattdessen rauschen wir weiter auf der E4, drei oder vierspurig mitten durch Stockholm. „Da, das Schloss“, sagt Frau SoSo, aber mein Blick ist längst auf Nordkurs gerichtet. Außerhalb kaufen wir ein, tanken voll. Die Läden haben oft bis 22 Uhr geöffnet. Benzin gib es, Kartenzahlung sei dank, immer.

Theoretisch könnten wir in die Nacht hineinfahren bis weit über das 350 Kilometer entfernte Sundsvall hinaus. Was heißt Nacht: in diesen Breiten geht die Sonne um halb zehn unter und gegen vier wieder auf. Die Dämmerung dauert ewig. Richtig dunkel ist es höchstens drei Stunden lang.

Wir entscheiden uns gegen Brachialnord, zelten stattdessen auf einem Parkplatz in der Gemeinde Sigtuma bei einer Art Freilichtmusum. Ein altes Dorf wurde auf vier fünf Hektar hügligen Landes liebevoll restauriert. Falunrote Gebäude auf grüner Wiese, Schwengelpumpe, bizarre landwirtschaftliche Geräte. Man muss Viby nicht gesehen haben. Dennoch ein Idyll.

Die Mutter aller Idylle dürfte jedoch Hornslandet sein. Am Ende der Halbinsel nördlich von Hudiksvall verzeichnet die Karte einen Campingplatz, den wir ansteuern. Schon von der E4 aus ist Hölick ausgeschildert. 33 Kilometer. Auf der Stichstraße hinunter zum Zipfel ist kaum Verkehr. Das Zauberland zwischen Felsen und Bäumen und Meer hält am Ende einen kleinen Hafen bereit, ein paar Häuschen, in den Wäldern sind Ferienhäuser verteilt und der Camping … ist eine einzige Baustelle. Der Besitzer bedauert am Telefon, dass sie erst am 1. Juni öffnen. Wir umso mehr, denn der Ort ist absolut still. Gäbe es keine Möwen und andere Vögel und würde der Wind nicht in Bäumen rauschen und Wellen ans Ufer schlagen, man würde ab-so-lut nichts hören. 

Einziger Trost, das Internet ist für schwedische Verhältnisse grottenlangsam, so dass wir wenigstens einen Pluspunkt einfahren, als wir auf dem auch sehr feinen und zwar nicht ganz so idyllischen Campingplatz Hudiksvall einchecken.

Die Nacht war erbärmlich kalt, vielleicht sechs Grad. Gegen drei Uhr in der Dämmerung unter rotem Morgenhimmel schürten wir für eine Weile den Spirituskocher, um die durchfrorenen Körper wieder auf Temperatur zu bringen. Heute werden wir im Alles-Laden nach Decken schauen. Vielleicht etwas russisches, aus Jakwolle.

Dieser verflixte gespaltene Stein von Lövö | #kursnord

„Mh-hmm, Ikea!“ Der Mann mustert unsere schneeweißen Fahrräder. Es ist nicht auszumachen, ob er verächtlich die Unterlippe rollt, oder ob er bewundernd die beiden blitzeblanken Stahlschimmelchen betrachtet. Außer einem ‚Hei‘ zur Begrüßung und einem ‚Heidåg‘ zum Abschied fällt kein Wort. Er steigt auf sein blaues Fahrrad, das von der Konstruktion her ziemlich ähnlich aussieht wie unsere beiden Leihräder und braust davon in den Garten des Hembygds Gård von Mönsterås.Welch lieblicher Platz. Gibt es etwas schwedischeres als Hembygds Gårds oder Hembygds Museet? Grob gesagt sind das alte Bauerngehöfte oder manchmal sogar ganze Dörfer von Holzhäuschen, liebevoll restauriert, in denen man eintauchen kann in die regionale Geschichte. Fast jede Gemeinde in Schweden dürfte so ein Freilichtmuseum haben. Frau SoSo und ich treiben uns herum, lungern auf Bänken unter alten Eichen, sind auf Mönsterås-Runde, eigentlich ein Fitness-Kurs rings um die Stadt, wenn ich die Schildchen mit dem joggenden Männlein richtig deute, die die Richtung weisen. Vielleicht drei vier Kilometer rings ums Städtchen: Vogelbeobachtungsturm, Schwimmbad, Gemeindehaus und eben das Heimatmuseum, wo wir unter der auf 13:25 Uhr stehen gebliebenen alten Uhr pausieren. Das Ding sieht aus wie eine Taschenuhr, die man mit einem Eisen an die Scheune genagelt hat, vielleicht einen halben Meter durchmessend mit modellierter Kette. Als wäre das Haus ein Gutsherr und dort wo die Uhr hängt, knapp unter der Dachrinne, wäre sein Uhrenseckel und die Kette baumelt herunter. Unweit steht ein alter Kran aus Holz mit einer eisernen Kurbel. Ich präge mir das Ding ein, denn daheim auf dem einsamen Gehöft habe ich mittlerweile etliche edle Holzstücke angesammelt, die ich gerne mit der Kettensäge bearbeiten würde, die aber so schwer sind, dass man sie mit Manneskraft nicht bewegen kann. Vielleicht baue ich einen Kran?

Dass man uns an der Rezeption des First Campings Ikea-Fahrräder geliehen hat, habe ich ohne Brille gar nicht bemerkt. Auch nicht, dass die Dinger einen Zahnriemen haben, statt einer Kette. Bei näherem Betrachten ist aber deutlich der Ikea-Aufkleber oberhalb des Tretlagers zu erkennen. Sie sind bestens ausgestattet, obschon beim einen Rad der Lenker schief ist, das andere erbarmungslos klappert, die Scheibenbremsen quietschen und Frau SoSos Sattel viel zu niedrig ist. Nach den ersten Metern stelle ich überrascht fest, dass die Technik derart raffiniert ist, dass sich die vermeintlichen Eingang-Fahrräder bei höheren Geschwindigkeiten in automatisch schaltende Zweigangräder verwandeln. Zauberei schlichtweg. Ich vermute dass in der Hinterradnabe eine Art Voith Fliehkraftkupplung (:-)) verbaut sein muss – wie in alten Porsche Traktoren – ein unverwüstliches Etwas, das von Zauberhand bei höheren Touren den kleineren Zahnkranz nach außen drückt und den Riemen herüberschiebt. Egal. Die beiden willenlosen Ikeaesel sind störrische Biester, zwingen einem trotz ihrer Willenlosigkeit dennoch die Gänge auf, egal was man tut. Für einen Typen wie mich, der beim Radeln gerne die Armstrongsche Kolibritechnik einsetzt, sprich gerne mit hoher Drehzahl kurbelt, ist es gewöhnungsbedürftig. So kurbeln wir durch die Gegend und machen einen Abstecher auf die Halbinsel Lövö. Dort gibt es einen gespaltenen Stein, habe ich auf dem Cover eines Buches in der Touristeninformation gesehen. Er sei riesig, sagt die Touristikerin am Empfang. Ein fast runder Findling, der wie von Teufels Hand in zwei Hälften gespalten wurde. Da will ich hin. Sieben Kilometer über sanft gewellte, kaum befahrene Sträßchen. Drei vier Höfe auf der Insel. Danach nur noch Natur. Schotterwege, die sich zu Pfaden zersiedeln. Die leckenden Wellen sanft ruhenden Meeres in den vielen kleinen bewaldeten Buchten. Spärliche Beschilderung. Vom gespaltenen Stein keine Spur. Niemand, den man fragen könnte. Hätte wir uns das bloß in der Info erfragt, aber nun … am Wegrand finden wir immerhin den Vard-Sten, den Warzenstein, dem man nachsagt, dass man etwas Gutes gegen wunde Füße, insbesondere Warzen tut, wenn man nach Regenphasen seine Füße in der mit Wasser gefüllten Mulde auf dem etwa sechzig Zentimeter hohen Findling badet.

Auf dem Rückweg aus der „Sackgassenhalbinsel“ Lövö wird mir klar, wie wichtig gutes Touristenmanagement für eine Region ist. Anhand der Karten und des Infomaterials, das wir in der unscheinbaren Informationsstelle am Hafen von Mönsterås erhalten haben, könnte ich mir nämlich durchaus vorstellen, den Rest der Ferien in dieser Gegend zu verbringen. Neben höchstem Berg weit und breit mit Ausssicht auf nur Wald ringsum (so die Tourismusbürofrau), gibt es den 80 Kilomter langen Mönsteråsleden, einen Rundwanderweg. Hofgüter, diesunddas, Pipapo und ewig schrappen die sanften Wellen der sommerlichen Ostsee an den Schäreninseln. Vorsaisonal ruhig ists zudem.

Sicher wären wir auch nicht nach Lövö geradelt, wenn nicht der gespaltene Stein und die geschnittenen uralten Bäume auf Bildern gelockt hätten. Eigentlich ist Schweden so aufgebaut wie ein Supermarkt, in dem man die Kunden mit Lockangeboten schon gleich nach der Tür verlangsamt. Nur, dass statt Fischdosen im Dreierpack auf den Auslagen der Tourimusinformationsstellen Bergwerke liegen, Höhlen, Mühlen, Schlösser und Spaßrutschbahnen und eben dieser verflixte gespaltene Stein von Lövö. Den wir nicht finden.

Fazit also, wenn du eine Region bist, die um Touristen buhlt, arbeite deine Sehenswürdigkeiten sorgfältig heraus, installiere sie als Phantasien im Kopf deiner potentiellen Gäste, so dass sie einen unwiderstehlichen Drang verspüren, hier zu bleiben. Gib ihnen Motorboote, Kanus, Ikeafahrräder … rechtschaffen müde erreichen wir abends den immer noch kaum bevölkerten Campingplatz. Durch den Tagesausflug habe ich mir die Gegend in einen Wiederkehrort ins Hirn gebrannt. Irgendwann mal mit weniger Norddrang. Doch nun, da ich dies schreibe, scharren die Nordwärtsseelenschlittenhunde schon mit den Pfoten und ich kann es kaum erwarten, weiter zu fahren und ich denke, Frau SoSo, die hier berichtet, geht es so ähnlich. Und herrjeh, wir sind noch immer verflixt weit südlich, wenn man sich das riesige Schweden einmal anschaut. Stockholm etwa 300 Kilometer.

Die lange Disco-Nacht mit DJ Sören Uflsen und MC Knut. Nicht. #kursnord

Yeah, ordentlich abhotten, frisch geduscht, halb angezogen, den Zeigefinger am ausgestreckten Arm in die Luft gereckt wie so ein Disco-Stu (Simpsons), rhythmisch Handtuch rubbelnd zwischen den sechs unbenutzten Waschbeckenplätzen und den drei Duschen und den vier WCs und den beiden Urinalen. Ich bin so schamlos alleine im Männerwaschhaus des Oknö-Campings und gerade läuft Abbas Mamma Mia , ouh shallalaa, im Radio, das man in machen Toiletten mancher WCs überall in Europa manchmal vorgedudelt bekommt. Die lange Abba-Nacht. Mit DJ Sören Ulfson und MC Knut … Träum weiter, Irgendlink, träum weiter.Zack, geht die Tür auf und ein Mann stellt sich, in klarem Deutsch Guten Abend sagend stratzend ans Urinal.

Frau SoSo hat das Nachbarduschhaus für Frauen längst verlassen, als Abba wie Gift in ihre Ohren drang. Aber so sind wir, so verschieden, so gegensätzlich. Nie werden wir eine gemeinsame lange Abba-Tanznacht verbringen.

Über eine hunderte Kilometer lange Autofahrt, meist auf der E22, die Schwedens Ostseeküste folgt, haben wir aufgehört, die Kilometer zu zählen. Wir dürften auf einem Punkt auf der Landkarte irgendwo zwischen Stockholm und Malmö sein, ganz nahe bei Kalmar, jener Stadt, die über eine Brücke das längliche Eiland Öland mit dem schwedischen Festland verbindet und das Eiland ist bestimmt hundert Kilometer lang und zieht sich von Nord nach Süd oder vielleicht auch zweihundert Kilometer lang. Ich will gar nicht messen.

Über Landschaften will ich berichten. Jene maigrün rapsgelb frische Gegend, die wir verlassen haben zum Beispiel. Eine hügelige Gegend, sehr landwirtschaftlich genutzt, in Schonen, Schwedens südlichstem ja was ist das, kein Bundesland, Kanton? Region? Egal. Relativ dicht besiedeltes Gebiet, dennoch aufgelockert mit kleinen feinen Farmchen auf noch frisch bestellten jungaufkeimenden Äckern. Dahinter eine Zeile Wald, eine Lindenallee, irgendwo auch größere Forste und immer wieder bleckt die schillernde Ostsee zwischen Hellbraun und Grün und gelb. Der Frühling hinkt gut zwei Wochen, vielleicht sogar vier hinter unserem Frühling her. Manche Bäume haben noch gar kein Laub.

Ich erinnere mich an die Radtour 2015 , die tagelang dauerte, sprich, was wir in einem Tag auf motorisiert durchbrausen, hatte damals ewig gedauert und ich erinnere mich an die geologische Erfahrung, die ich da machte. All die Einschnitte der Straßen durch Felsen unterschiedlichster Couleur, unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft. Tiefe Einschnitte zeigt auch die E22 ungefähr hier in dieser Gegend, die sich Småland nennt, dem zweitsüdlichsten nein nicht Bundesland, auch nicht Kanton, dem zweitsüdlichsten Irgendwas Schwedens. Ist das Basalt oder Granit oder vulkanisch oder gletscherlichen Ursprungs? Ich weiß es nicht, dazu bin ich geologisch viel zu unkundig. Ganz klar dürfte die bombastische Gegend ab Kalmar nördlich parallel zur Insel Öland glazial entstanden sein. Man verzeihe den Fachausdruck, den ich irgendwo zwischen zwei Hirnzellen hervorgekramt habe und vielleicht ist er ja falsch oder alles ist falsch. Egal. So sieht es hier aus: Wald, Wald, Wald, alle Straßen, außer der E22 winden sich unheimlich kurvig durch die Wälder, sanft auf und ab über Hügel. Manche sogar ungeteert als fest gefahrene staubige Schotter- und Sandpiste. Wo Felder sind, hat man die Steine herausgeräumt und als Umrandung und Grenze zu etwa ein Meter dicken Mauern aufgeschichtet. Manchmal liegen runde riesige Steinhaufen mitten im Acker. Die Steine messen gut fünfzig Zentimeter, oft auch mehr, hellgraue Etwase. Im Kiefernwald liegen die Findlinge wie damals als sie abgelegt wurden, halbbemoost und beflechtet zwischen den Bäumen und das Meer ist übersät von winzigen bewaldeten Inseln. Viele Eichen mit jahrhunderte dicken Stämmen, teilabgestorben, halb tot, halb lebendig und besonders bizarr wirkt die Szene, wenn sie ganz abgestroben sind, Ruinen jahrhunderte alter Lebewesen, die vielleicht sogar den Dreißigjährigen Krieg erlebt haben?

Ich habe Schweden nunmehr zwei Mal von Süd nach Nord per Fahrrad durchquert, wobei ich nur das Inlandsschweden kennen gelernt habe. Heuer folgen wir der Küste und ich bin hellauf begeistert von der Wunderbarkeit dieser Landschaft. Zudem spült der ‚finnische Brutofen‘, so will ich es mal in Meteorologie-Neusprech spektakulär nennen eine ungewöhnliche Hitzewelle übers Land und wenn man den Presseberichten glauben darf, bleibt das Frühsommerhoch noch eine Woche stabil mit Temperturen bis über dreißig Grad. Angeblich, denn bisher fühlt es sich normal an (die Prognose, die ausgedruckt in der Rezeption vorliegt, sagt jedenfalls normale Temperaturen um 16 Grad voraus. Nix Finnenschwitzkasten).

Keine Spur von meteorologischem Mamma-Mia-Feeling.

Wir legen heute am  fünften Tag der Autotour einen Ruhetag ein, haben Fahrräder gemietet und radeln von der Halbinsel nach Mönsterås.

Tusen-zwei Tore für Trelleborg | #kursnord

Geld, Geld, Geld. Etwa 50 Schwedische Kronen aus dem Jahr 2015 gaukeln noch in einem Plastikbeutel im Reisegepäck. Das sind umgerechnet ungefähr fünf Euro. Wir fahren also nicht ganz mittellos in ein Land, in dem man, Berichten zu Folge, immer seltener Bargeld benutzt und stattdessen elektronische Bezahlmittel einsetzt. Für ein Leckeis würde das Geld sicher reichen. Doch so weit sollte es gar nicht kommen. Nachdem wir den Malmö-Camping um die Mittagszeit am gestrigen Sonntag EC-Karten-zahlend verlassen, fahren wir erst einmal in den futuristisch anmutenden Stadtteil Hyllie östlich des Zentrums. Ein auch sonntags recht belebtes Gebiet, da die Shopping-Mall geöffnet ist und unterirdisch die erste Bahnstation ab Kopenhagen liegt und im regelmäßigen Takt Menschen ins Viertel pumpt. Die Parkautomaten sind ‚Alla Dager‘ (also nix mit sonntags gratis parken) mit 20 Kronen je Stunde zu befüllen, problematischer Weise hat man jedoch den Schlitz fürs Münzgeld zugeschweißt und akzeptiert nur noch Kreditkarten. Frau SoSos Karte funktioniert nicht und meine wohl auch nicht (ich habs gar nicht ausprobiert, um uns die Hoffnung, sie könnte funktionieren nicht gänzlich zu rauben). Wir monetarischen Dinosaurier, wir. Verflixt. ‚Falschparkend ‘, twittere ich. Mit dem mulmigen Gefühl des Erwischtwerdenkönnens schleicchen wir um die Gebäude und sind recht schnell wieder raus aus dem Getümmel.

Nächster Stopp Trelleborg, etwa vierzig Kilometer östlich von Malmö. An einem Geldautomaten kann ich endlich Geld ziehen. Immerhin, das bedeutet, dass man auch mit Bargeld noch zahlen kann in Schweden, aber es gibt nur maximal 2000 Kronen. Die Unterdrückung des Cash, weiß man da schon mehr darüber? Ein Schwede, der uns in Malmö den Parkautomaten erklärte sagte jedenfalls, es sei wegen der Steuern, die hierzuland gerne hinterzogen würden und wenn alles elektronisch läuft, wäre es besser zu überwachen. Durch Trelleborg bummelnd verstrickte mich Frau SoSo in ein Gespräch über die Ausschnitte: stell Dir vor, du bummelst durch deine Heimatstadt Zweibrücken und siehst nur ein Gewerbegebiet, und an Hand dessen machst du dir dein Bild der Stadt. Wäre das richtig?

Genau das droht uns auch hier. Wir sind in einem tristen Viertel, in dem viel leer steht und die Schaufenster der Geschäfte allesamt mit Baustahl vergittert sind. Nicht schön. Schön schäbig.

Später im schönen Stadtpark und der anschließenden Fußgängerzone wirds beschaulicher und wir lassen uns in einem Burger-Restaurant nieder für einen Happen. Nebenan das Tusen2 voller Männer, nur eine Frau, allesamt tätowiert. Ausschnittsdenken: in Schweden sind alle tätowiert. Sogar Kinder mit großflächigen Armtattoos habe ich gesehen. Ähm ein Kind.

Plötzlich Schlachtrufe von nebenan. Im Tusen2 gastieren also die Fans des Trelleborg FF. Zwei Kerle stehen dirigierend am Geländer der Außenterrasse und stimmen schlichte Fußballieder an und der Chor fällt schlachtrufend ein. Der Text ist einfach: „Tjelleboah, Tjelleboah, shalalalalaaa“ in verschiedenen Variationen und Melodien. Ein anderes Mal auf die Melodie von ‚Oh Brittania‘ singen sie etwas mehr Text, von dem ich nur das Wort Malmö verstehe. Aha. Malmö gegen Trelleborg also. Brutales Lokalderby. Ich muss an Saarbrücken-Homburg denken und vermute, dass in dem Oh-Brittania-Lied der Text lautet: Eure Eltern sind Geschwister.

Wir mampfen schnell, um dem Getümmel zu entrinnen. Eine Stadt im Fußballschlachtmodus ist nichts für unschuldige Touristen.

Raus auf die Straße Nummer neun, die an der Ostseeküste den südlichsten Punkt Schwedens (etwa mittig zwischen Tjelleboah shalalalalaaa und evil Ystad) flankiert. Ein sonntagsproppenvoller Parkplatz mit Restaurants und allem, was eine Landmarke dem kapitalistisch geknechteten Individuum zu bieten hat. Schnell weg. Selbst mit deutschen Augen betrachtet ist es dort voll und hektisch und latent aggressiv. Knallenge Straße direkt am Meer. Der mitgeführte Radweg an der Ostseeküste, ein Abschnitt des landesweiten Radnetzes Sverige Leden, lässt mein Herz höher schlagen. Trotzdem froh, dass ich im Auto sitzen darf, während Frau SoSo das Ruder in der Hand hält.

Wir sind auf Ruhe programmiert, lassen uns treiben, stoppen hie und da. Wir haben überhaupt keinen Plan, also auch nicht nach Sehenswertem recherchiert, wo wir unbedingt hin sollten. Das ist einerseits etwas riskant, da man sicher an der ein oder anderen Sehenswürdigkeit vorbeifährt, ohne es zu ahnen, andererseits genau das, was wir brauchen. Völlige Loslösung von Terminen und Zwängen. Umso glücklicher sind wir, als wir zufällig vor einem mehr als tausend Jahre alten Steinkreis stehen, der hoch auf Klippen zwischen Simirshamn und Ystadt zwischen viel Schafherde thront. Eine sogenannte Schifflegung. Das Ding sieht tatsächlich aus wie ein Schiff. Die knapp ein Kilometer lange Wanderung zu unserem touristischen Zufallsfund über schöne Sandwege durch Wiesen ist alleine schon erlebenswert. Ich glaube, Frau SoSo berichtet darüber. Für diejenigen, die mehr wissen und im Netz suchen möchten: es handelt sich um die größte Schiffslegung in Schweden namens ‚Ales Stenar‘ in Kåseberga.

Weiter treiben der Ostseeküste folgend, sich nicht sattsehen könnend, immer wieder stoppend, auf dem Camping Borrbystrand landend und morgens, also just jetzt, im Netz noch schnell den Ausgang des Matches recherchierend: Trelleborg gewinnt 1:0 gegen Malmö.