Kein Verkehr zwischen Mettlach und Taben | #UmsLand/Saar

Diese Stille, die Du auskostest wie ein Sternemenü, das französelnde Meisterköche eigens für Dich kredenzten und es mit viel Pomp auftragen. Du ahnst die Saar, kaum zwanzig Meter entfernt. Kann ein Fluss so leise fließen, dass man ihn nicht hört? Kein Tier, kein Wind in den Wipfeln, kein Geäst krächzt. Blätter fallen nicht.
Aufrecht hockend im Zelt, düsternis starrend, halb träumend denkst Du, bin ich tot? Vage Panik erupiert unterm Ozean des Halbschlafs. Gleich wird sie einen Tsunami aufwerfen, der Dich zermalmt. Ein kurzes Gebet noch um ein Auto, einen Güterzug, einen LKW, der Autos hinter sich staut, so wie es üblich ist hier im engen Saartal, so wie Du es verlassen hast, als Du endlich einschliefst am Abend unterm Halbmond neben der Buche auf einem zehn Zentimeter dicken Bett aus Laub und Eckern und dürrem Gezweig. Es 1:07 Uhr.

Vom Bostalsee schlängelt sich gestern der große Saarlandradweg entlang des Nackens der ‚Wutz‘ (siehe vorigen Blogeintrag, in dem erläutert wird, dass der Umriss des Saarlands einem Schwein ähnelt) über den Kopf zur sturen Schweineschnauze, die etwa bei Mettlach an der Saar beginnt. Dazwischen liegen drei Seen, die auch dem Themenradweg Dreiseentour seinen Namen geben. Eigentlich sind es Stauseen, der Bostalsee, durch den die noch junge Nahe fließt, der Primstalstausee, benannt nach dem Flüsschen Prims und in der Nähe von Wadern, genauer bei Losheim, der Losheimer See. Am spektakulärsten dürfte der Primstalsee oberhalb Nonnweiler sein. Er hat zwei Arme. Niedrigwasser sei Dank sieht man die Ufer besonders markant. Auf einer Infotafel ist skizzierr, wie das als Trinkwasserreservoir geplante Gewässer ‚funktioniert‘. Dass der Losheimer See ein Stausee ist, erfahre ich erst in einer Konditorei in Losheim, in der ich siebzehn Uhr abends unterzuckert ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte esse und einen Kaffee trinke. Da lang ein Lebensmittelladen? sagt die Verkäuferin, ne, da kommt nur noch der Stausee, und sie schickt mich in die andere Richtung ins geschäftige Städtchen zu einem Lidl. Der Weg dahin deutschfeierabendblechkarossenaggressiv, Drängelei, Huperei, multiple Anklagen derjenigen, die sich im Recht meinen. Für einen kurzen Moment des nach dem Einkauf Weiterradelns, den See links liegen lassend, weil es die Streckenführung des Saarlandradwegs so will, sinniere ich, ob es anders ist als früher mit der Aggression jenseits des Blechs, anders als früher mit dieser sinnlos kleingeistigen Machthuperei, dem Fahren auf den letzten Zentimeter, dem Rechthaben, ohne zu wissen, was Recht ist und dann wundere ich mich, dass die Menschen außerhalb ihrer Autos, also nicht eingebunden in Verkehrssituationen, so normal, so friedlich, so freundlich sind.

Nachdem der große Saarlandradweg zwischen Wadern und Losheim eher unspektakulär war, mausert er sich ab einem Dorf namens Häusern wieder zu einem Waldidyll und ab Mettlach folgt er dem Saarradweg, also dem großen Flussradweg. Ein Mann in Mettlach empfiehlt mir, links zu fahren nach Dreisbach an der Saarschleife. Dort gibts Flusswiesen zum zelten und eine Jugendherberge. Campingplatz gibt es in Mettlach nicht. Viele Hotels. Ich überquere die Hängebrücke. Hellblaues Teil. Jenseits ein riesiger Park, ich traue mich nicht hineinzufahren und dort zu Zelten, radele stattdessen entlang von Zäunen und Mauern von Tor zu Tor. Irgendwo steht Villeroy und Boch geschrieben. Eine Frau mit zwei Hunden sagt mir auch den Namen des ehemaligen Schlosses. Ich hab ihn vergessen. Ein paar Kilometer flussabwärts des Parks treffe ich die Frau an der einzigen Stelle in der Schlucht, an der man ein Zelt aufbauen kann. Ist zwar wahrscheinlich Naturschutzgebiet, sagt die sie, weist aber kinnwackelnd hinüber auf die andere Flusseite. Dort donnert ein Güterzug und auf der Straße ziehen die Kolonnen.

Ein ohrenbetäubender Lärm. Hier schlafen? Hab ich eine Wahl? Müde bin ich nach achtzig Kilometern. Abenddämmerung. In Kürze nichts besseres zu finden, sagt die Frau. Da vorne gibts eine Trinkwasserquelle. Da im Wald eine Bank. Ansonsten nur Fuchs und Luchs und Maus und Ratt‘ und falls ich etwas brauchen sollte, erklärt sie mir den Weg zu ihrem Haus, einfach klingeln.

Das mit der Bank war klasse, kann ich nun sagen. Unterm Gedonnere des Verkehrs einschlafen aber nicht und vorhin aus dem Halbschlaf zu erwachen und nichts, absolut nichts zu hören, war geradezu unheimlich.

Mittlerweile gab es doch noch das eine oder andere Auto und hinterm Zelt raschelte ein Fuchs, ein Luchs oder ’ne Ratt‘. Ich lege mich noch mal hin.

Folge der gelben Wutz | #UmsLand/Saar

Es ist allgemein bekannt, dass das Saarland, also sein Umriss, die Form eines Schweins hat, das im Profil nach links schaut. Mit etwas Phantasie könnte es sich auch um einen Igel handeln. Igel und Schweine haben ja ähnlich kugelige Formen und ähnlich rüsselige Schnauzen.
Etwas dünnhäutig dieser Tage wegen abschätziger Bemerkungen einiger Menschen zum Künstlerberuf, die mir ungewollt nahe gingen, haderte ich, ob ich an meinem Bayernprojekt weiter arbeite und eine Woche lang entlang der Alpen zwischen Bodensee und Königssee radele, um mein Portrait des Bundeslandes weiter zu bearbeiten. Zwei Dinge ließen mich von der Idee ablassen: es ist mir zu wider, mitsamt Reisegepäck und Fahrrad per Zug oder per Auto zum Einsatzort zu fahren, sprich, erst einmal nach Lindau und später wieder ab Berchtesgarden zurück in die Pfalz. Beides halb- bis ganztägige Reisen. Unbequem.

Ich liebe es nunmal, daheim loszuradeln und auch wieder per Rad nach Hause zu kommen.

Zweitens dieses eigenartige Einknicken des Selbswertgefühls wegen der Bemerkungen zweier Menschen zum Künstler- und Autorenberuf. Normalerweise bin ich dagegen immun und es macht mir nichts aus. Keine Ahnung, wieso es mich so sehr traf.

Wie reagiert man darauf? Ein Erfolgserlebnis muss her. Am besten ein schönes, rundes Reiseprojekt, garniert mit nichtswürdigen Kunst- und Schreibhandlungen. Ein Hieb in Bürgers Wohlgefälligkeitsvisage. Da, nimm, Ignorant, deine ‚Ich hab ja nichts gegen Kunst, aber Schandlippen‘ mögen verstummen.

Nun ist es mit dem Bayernprojekt leider so, dass es nur ’scheiternd‘ gelingen kann. Dass ich es wegen der über 2000 Kilometer Distanz nur scheibchenweise umradeln und beschreiben und bekunsten kann. Jede Etappe bringt mich zwar voran, aber das finale Erfolgserlebnis erhalte ich erst, wenn ich ganz zu Ende geradelt bin. Ich muss mindestens drei Mal scheitern, um zu gewinnen.

Weshalb ich mich des Saarland-Radwegs erinnerte. Knapp 360 Kilometer. Fünf Tourtage. Und direkt vor der Haustür.

So machte ich mich gestern auf, rüber nach Homburg/Saar. Homburg liegt allerdings gar nicht an der Saar, sondern am kaum 20 Kilometer langen Erbach.

Die Hinweisschilder des großen Saarland-Radwegs sind grün, tragen stets Name und Entfernung zu Orten in zehn bis dreißig Kilometern Entfernung. Ab Homburg sind zum Beispiel Jägersburg und Höchen ausgeschildert. Außerdem bleckt gelb der Umriss des Saarlands auf den Schildern. Das Schwein, welches man auch Wutz nennt. Es ist mein weißes Kaninchen, das mich die kommenden Tage führen wird und hoffentlich das Künstlerselbstwertgefühl wieder gerade rückt.

Die gestrige Etappe entgegen dem Uhrzeigersinn führte übrigens hoch in den Norden des Saarlands. Vom Homburger Bruch über den Höcherberg, vorbei an Sankt Wendel durchs Ostertal bis zur Nahe, die oberhalb des künstlich erstauten Bostalsees ihre Quelle hat.

Tippfehler lasse ich mal im Artikel. Dass die Bluetooth-Tastatur nun völlig den Geist aufgegeben hat und ich eindaumig auf dem Touchscreen tippe, werte ich als kleines Scheitern zwischendurch.

Ende des ersten Reiseabschnitts in Lindau. | #UmsLand Bayern

Es gibt die Momente unterwegs, da wirst du unweigerlich schnell. Viel schneller, als dir lieb ist. Der Sog all der Alltage um dich herum reißt dich mit und es gibt, ähnlich wie in einem Meeresstrudel, der den Gezeiten gehorcht, kaum ein Entrinnen.Gerade habe ich eine viertel Stunde verplappert mit einem Düsseldorfer Radler, der sich anschickt, die Route Bodensee-Königssee auf dem Bayernnetz zu radeln. Neben einem Wegkreuz unweit von Schloss Syrgenstein. Der Mann keucht, ist das steil, ich weiß nicht, ob ich genug trainiert bin, um die Strecke zu schaffen. Und ich stimme ihm zu, bin ich doch soeben aus dem Tal des Oberen Argen hier herauf gekeucht. Die Szene ist lieblich und sprengt bestimmt die Lieblichkeitswerte auf meiner selbst erfundenen Skala Liebliches Taubertal und erstmals zweifle ich, ob diese Skala, wie die Richter-Skala, tatsächlich nach oben hin offen ist. Schon vor wenigen Kilometern, beim Abstieg aus dem Weiler Schweineburg, von wo aus man den Bodensee sehen kann, wurde mir bewusst, dass hier, so nahe bei den Alpen ein anderer Radlerwind weht. Auf den Hinweisschildern der Radwege sind sogar Steigungswerte angegeben. Und die sind oft zweistellige Prozentzahlen. Immerhin schaffte ich den knappen Kilometer ab Schloss Syrgenstein noch strampelnd im ersten Gang. Wenn ich die Runde wie ursprünglich beabsichtigt, in Lindau begonnen hätte, wäre ich sofort ins kalte Wasser allen Aufs und Abs gesprungen und ich spüre erst jetzt, nach einer Woche Radeltour, dass ich die nötige Fitness dafür habe. Wer weiß, vielleicht hätte ich aufgegeben, so direkt mit den Härten des Bergradlerlebens konfrontiert.

Da oben gibt es am Radweg keine Einkaufsmöglichkeit, sage ich meinem Düsseldorfer Radlerkollegen. Seine Packtasche quillt über vor Äpfeln, die er gesammelt hat, aber sonst hat er wenig Lebensmittel dabei. Also schenke ich ihm mein letztes Stück Schokolade, dreiviertel Tafel, denn bis zum Campingplatz Höll, den ich ihm empfehle, wird er garantiert nichts mehr einkaufen können.

Drei wandernde Damen aus der Gegend geben mir Tipps für meinen Weg: in Maria Thann gibt es einen Automaten bei einem Bauernhof, wo man Wurst in Dosen und Eier und Käse kaufen kann. Laden? Ach ja, in Wohmbrechts, nur etwa einen halben Kilometer abseits der Radroute ist noch der Dorfladen. Blick auf die Uhr, um sechs macht der zu und nun ist schon halb sechs. Eine wertvolle viertel Stunde verschenkt. Aber ich könnte die fünf Kilometer noch schaffen bis Ladenschluss. So trete ich ordentlich rein und vernachlässige dabei alles Sein, nur um schnöden Vorankommens willen.

Was, Herr Irgendlink, würdest du tun, wenn du nicht wüsstest, dass der Laden bald schließt, wenn du womöglich nie von dem Laden erfahren hättest? So grübele ich an Sehenswürdigkeiten vorbei an bummelnswerten Alltäglichkeiten und spüre, wie der Takt der Außenwelt meinen eigenen Takt bestimmt.

Neun Minuten vor sechs bin ich am Abzweig nach Wohmbrechts. Bis in die Dorfmitte sind es nur 600 Meter. Dann noch den Laden finden … ich könnte es noch schaffen, beschließe aber, die Radroute weiter zu radeln. Schließlich werde ich in spätestens Lindau einen bis acht Uhr offenen Laden finden. Genug Zeit also zum Bummeln und vielleicht ergibt sich ja zwischendrin noch eine Möglichkeit. Hergatz lässt sich gut an. Liegt an der B 12. Riesen Spielhölle. Wo Spielhölle, da auch Laden, denke ich arglos. Aber weit gefehlt. Die nächste Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen, ist in Wangen, 5,6 Kilometer ab von der Route. Ich zwinge mich, dem zu widerstehen, nicht zuletzt, weil die Straße nach Wangen feierabendstark befahren ist.

Nun taucht das nächste Problem auf: ich muss vor acht in einem Laden in Lindau sein, logisch. Die Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht. Ich habe noch ein daumenbreites Stück Käse, den Apfel vom Düsseldorfer, ein Liter Wasser und ein paar getrocknete Nüsse. Wird ne hungrige Nacht, wenn ich irgendwo draußen bleiben will.

Langsam werde ich dennoch ruhiger. Mein Hirn hat endlich einen Teilsieg erreicht und das Muss, vor acht einen Lebensmittelladen zu erreichen, gestrichen. Stattdessen Alternativen: Wasser und getrocknete Äpfel und daumengroßes Stück Camembert. Dazu Sternenhimmel und eine ruhige Wiese. Das wäre das Schlimmste, was mir drohen würde. Und dafür muss ich nicht im kollektiven Ladenschluss-Alltag hetzen.

Doch es kommt besser. In Hergensweiler lacht mich ein Biergarten beim Gasthof zur Post an und ich beschließe, bei den Landwirten am Rande des Dorfes um Zeltmöglichkeit zu fragen und dann im Gasthof ein Schnitzel zu essen.

Schon gleich beim ersten Fragen lande ich auf der Apfelwiese eines Energiebauern. Zudem mit höchst interessantem Konzept: statt Mais schürt er die sonnenblumenähnliche Pflanze Silphie in einem Pilotversuch im Allgäu, an dem nur eine handvoll Betriebe teilnehmen. Die Silphie wird nur einmal gepflanzt und wächst dann jedes Jahr von neuem. Es entfällt das arbeitsintensive Felder bestellen, das Giftspritzen und der mühsame Schutz wie beim Mais. Zudem ist die Pflanze sehr schön, im Gegensatz zum Mais. Wie der Ertrag ist, weiß mein Gastgeber noch nicht und er hat auch erst einmal nur ein kleines, hektargroßes Versuchsfeld. Das leider schon geerntet und frisch gegüllt ist. Am Rande sieht man jedoch noch einige übriggebliebene, plattgefahrene, braun gegüllte Exemplare. Wenn ich es nicht gewusst hätte, ich würde sie für Sonnenblumen mit kleinen Blüten gehalten oder für Topinambur.

Die Nacht neben dem Kraftwerk ist gemütlich. Ab und zu plumpst ein Apfel neben das Zelt. Sterne funkeln. Abends gabs noch ein wärmendes Lagerfeuer bei meinen Gastgebern, die die letzten Jahre im Sommer stets in ihrem Wohnwagen neben dem Haus wohnten. Das erklärt wohl auch, warum sie schon öfter Zeltgäste hatten. Der Wohnwagen wirkt wie ein Signal, das sind auch Camper, die wissen wie es läuft, die nehmen mich bestimmt auf.

Das finale letzte Stück nach Lindau bewältige ich heute Morgen. Es gibt tatsächlich keinen Laden in Radroutennähe zwischen Isny und Lindau. Nach 13 Kilometern radele ich auf die Insel. Zur Begrüßung gleich einen Beinahe-Unfall mit bösem schwarzem SUV, dessen Fahrer sich einbildet, man könne auf einer drei Meter breiten Spur Radler überholen.

Nunja, ich kann es teils verstehen. Das Konfliktpotential ist hoch in Lindau. Unendlich viele Radler und unendlich gestresste Autofahrer, die sich zudem hinter gefühlt ewig herabgelassenen Schranken bis zum Kreisel vor der Insel stauen.

Lindau und ich werden keine Freunde. Zu touristisch, zu kommerziell alles und eben übervoll. Nur der Besuch in einem Bio-Laden erheitert mich ein wenig. Später am Hafen beende ich den Track auf dem Smartphone. Teil eins meiner Reise um Bayern endet hier.

Ein Sekundenbild, flüchtig an einem Hoftor vorbeiradelnd | #UmsLand Bayern

Man muss durch die Menschen hindurchradeln, hunderte Kilometer weit, um zu verstehn, wie anders sie ticken, wie sehr sie sich verändern, Meter um Meter von Dorf zu Dorf, von Gegend zu Gegend. Alles andere als eine homogene Masse. Es sind die feinen Nuancen, die sich ändern etwa im Grußgebaren. Mehr hat man ja oft nicht mit den Menschen zu tun als Reisender. Ein flüchtiger Gruß im Vorbeiradeln, die Aufgabe einer Bestellung am Tresen oder an der Ladentheke. Es gibt sie nicht,’die Bayern’. Es gibt die Franken, die Ober-, die Unter- und die Mittelfranken und es gibt die Schwaben, vielleicht auch die Allgäuer und selbst das ist zu verallgemeinert. Jeder Mensch ist anders. Blitzlichter am Weg, bei denen es nicht zum Kontakt kommt, reichern das Bild an. Jener alte Mann zum Beispiel, der für eine gute Sekunde an mir vorbeizieht, besser gesagt, ich an ihm und an der Hofeinfahrt zu seinem hoffnungslos überwucherten Hof. Wie er auf seine Hack gestützt ruht, völlig erschöpft von der Arbeit gegen das Kraut. Ein Mensch am Rande des Todes, diagnostiziere ich im Bruchteil dieser Sekunde. Irgendwo nahe Rothenburg ob der Tauber. Wie lange wird er noch leben? Der Mann ist uralt und trägt eine blaue Arbeiterhose, dazu ein Hemd. Mehr kann ich in der Winzigkeit der Zeit nicht erkennen. Fast bin ich versucht, zurückzufahren und ein Foto zu machen, aber das wäre zu intim und darüber schreiben reicht ja auch. Die Sonne schien und damoklesk gaukelte der Herbst über der Szene.

Oder jener etwas angetrunkene Kerl beim Bruckwirt vorgestern, der zur Musikergesellschaft gehörte und der zwischen Tür und Angel der Toilette ein Gespräch anzettelte, weil er dachte, er kenne mich. Kann eigentlich nicht sein, sagte ich, ich bin fremd hier, hast Du Wurzeln in der Pfalz, fragte ich. Nein. Wir können uns also nicht kennen. Es hätte in lustiger, alkoholschwangerer Abend werden können, aber ich war müde.

Den Illerradwg, dem ich über hundert Flusskilometer von Ulm bis Kempten folgte, kann ich nur bedingt empfehlen. Die ersten etwa fünfzig Kilometer sind recht langweilig, meist direkt am Fluss, ohne viel kulturellen Input. Meist radele ich allein. Erst ab Aitrach verzeichnet der Radwg deutliche Ausschläge auf der nach oben hin offenen Skala Liebliches Taubertal, an der ich seit dem Beginn der Reise alles messe. Ganz groß ist die sehr hügelige Gegend um den Iller-Durchbruch bei Kalden. Ein bisschen erinnert das steile Gelände aus Schutt und Gröll, in dem sich Bäume und Gestrüpp zu halten versuchen, bis der nächste Hangabrutsch erfolgt, an die Rheinschlucht, aber in Miniatur. Burg Kalden liegt direkt beim Panorama- Aussichtspunkt. Unbedingt den hundert Meter Abstecher vom Radweg machen. Und wer noch nicht genug hat, kann sich entlang der Wiese oben auf dem Abbruch weiter- und über einen Waldpfad hinunterschaffen, bis zu Bayerns erster Hängebrücke, die nach 2001 erbaut wurde. Ich war erstaunt, dass es offenbar vor der Jahrtausendwende keine einzieg Hängebrücke in Bayern gab.

Gegen Kempten nimmt die Lieblichkeit des Illerradwegs wieder ab und in Kempten biege ich auf den Allgäu-Radweg Richtung Südwesten ein, verlasse das Illertal. Die Navigation hinaus aus Kempten ist mühsam. Ein Stümper muss die wirklich reichhaltige Radwege-Beschilderung angebracht haben oder ein Spaßvogel, der das Radwegmarkieren mit Ostereiersuchen verwechslt hat. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Schilder an den unsinnigsten und uneinsehbarsten Stellen angebracht sind. Ja, wo versteck’ ich denn das nächste Schildchen für die Radweg-Eier-suchenden Radlerchen?

Jenseits von Kempten via Ahegg führt ein beispiellos gut erhaltener Bahntrassenradweg in Schlangenlinien hinauf in die hügligen Berge des Allgäu. Traumhaft erhaltene alte Brücken, nur selten muss man die Straße überqueren. Mein Nachtplatz an einem Weiher mit Strandbad ist obendrein gut gefunden. Frisch gemähte Wiese, Stille. Ich könnte sogar im See baden und zur Plattform hinüberschwimmen, wenn ich den Mumm hätte. Aber am Abend kühlt es schnell aus und ich schaffe es gerade mal, die klebrigen Radlerhände im lauwarmen Wasser zu waschen.

Nun bin ich schon wieder einige Kilometer bahnradwegaufwärts geradelt, habe bei Josts Dorfladen in Ermengerst einen Kaffee getrunken und ein Sandwich gegessen. Sitze auf einer Bank und es beginnt zu nieseln. Noch etwa fünfzig Kilometer Luftlinie sind es bis Lindau. Vielleicht erreiche ich heute das Ziel dieses ersten Abschnitts meiner Bayernrunde.

Nachtrag: wegen Tastaturversagens musste ich sämtliche E des Artikels mit dem Touchscreen hinzufügen. Eine halbstündige Frickelei. Es könnte zu erhöhtem Tippfehlervorkommen kommen.

(2. Nachtrag aus der Homebase: Die Homebase hat ein wenig mit dem E-Streuer nachgewürzt.)

Von schlafenden Cowboys, Wetterbaronen und einem Hund namens Flocke | #UmsLand Bayern

Es ist verrückt, dass das Wetter unter uns Radreisenden solch ein elementares Thema ist, obwohl wir es doch nicht im geringsten beeinflussen können. Die Wettervorhersage ist eine meiner Lieblingsapps. Ich benutze grundätzlich diejenige, die im Telefon eingebaut ist und lade mir die Orte darauf, die ich in Kürze passieren werde. So kann ich stundenweise sehen, ob es regnen wird oder nicht. Denke ich zumindest. Die Wahrheit schaut natürlich viel komplizierter aus. Meine Standard-Wetterapp liefert mir quasi Wetter von der Stange. Nichts besonderes, stinknormale Prognosen, die meist nicht eintreffen. Dennoch ist mir mein Wetter lieb und teuer. Am vorgestrigen Abend sitze ich in der Küche der Ulmer Paddler und schaue Karte und Wetter und sehe, es wird regnen ab frühmorgens bis spätnachmittags. Überall. In Ulm, um Ulm und um Ulm herum. Ich brauche also gar nicht erst aufstehen und ich werde wohl einen Ulm-Spaziergang machen. Und erst nachmittags den Iller-Radweg aufwärts radeln, dachte ich mir.

Doch dann: nach einem nächtlichen Schutt aufs Zelt herrscht um acht Uhr früh Stille. Kein Plätschern. Zelt auf, rausgucken. Trüber Himmel. Die Spitze des Münsters ragt in den Dunst. Wetterapp auf. Tatsächlich. Regen ist abgesagt.

Ich habe nun zwei Wettermöglichkeiten. Die von gestern Nacht und die aktuelle Version. Woran will ich glauben?

Erst einmal einen kleinen Stadtspaziergang machen. Die Keramikerin aus Neustadt an der Eich, die mit Wohnmobil bei den Paddlern im Hof übernachtete, hatte mir vom Fischerviertel erzählt. Viel Fachwerk. Das ganz alte Ulm. Und vom Schiefen Hotel. Das schiefste Haus der Stadt steht sogar im Buch der Rekorde. Die Stadtmauer, habe ich tags zuvor gesehen, ist auch begehbar und scheint spannend. Und natürlich das Münster. Der 191 Meter hohe Turm.

In der Tat gibt es mehrere schiefe Häuser an dem Flüsschen Blau, der in Ulm in die Donau mündet. So als hätte der unglückliche Architekt aus Asterix und Kleopatra sie gebaut. Es gibt ein schmales Hotel, bei dem vermutlich keine Doppelbetten zwischen die Wände passen würden und eben das schiefe aus dem 15. Jahrhundert.

Die Pforte zum Turm des Münsters öffnet um zehn Uhr, so habe ich noch eine Weile Zeit, das Stadttreiben zu beobachten. Hundegassigänger und torkelnde Nachtschwärmer machen Schichtwechsel und in der Kirche findet ein Gottesdienst statt. Vor allen Pforten sitzen Bettler. Ab und zu kommen mir Menschen mit Brötchen entgegen und ich stelle mir ihre Spur als mathematischen Vektor vor und wenn ich die Vektoren kombiniere, kann ich berechnen, wo die Bäckereien sind. Fast wie Wetterberechnen. Vielleicht ein bisschen exakter.

Immer noch kein Regen. Ich steige auf zum Turm über schmale Wendeltreppen. Zähle anfangs die Stufen. In den dunklen Steigen mit den winzigen Gucklöchern gibt es nicht viel zu tun. Verhaspele mich. Immer wieder unterbrechen Plattformen den Aufstieg, wechselt die Drehrichtung der Treppe. Auf halber Höhe befindet sich eine Art Galerie mitten unterm Turm, in der Bilder von anderen Gotteshäusern mit Türmen weltweit zu sehen sind. Für fünf Euro Eintritt kriegt man also dreißig Kirchtürme weltweit. Ein Schnäppchen. Am Münzprägeautomat, der drei Motive bereit hält und am Ende der Galerie steht, präge ich mir das Ulmer Münster. Dann weiter aufwärts in luftige Höhen. Die letzten über hundert Stufen steigt man mitten unter der Turmspitze, die ein von Streben durchwirktes Etwas ist. Insgesamt seien es über 700 Stufen, sagt mir eine Frühsportlerin, die den Turm aus Fitnesszwecken besteigt. Manchmal kämen einem auf diesem letzten Stück, auf dem sich sowohl Auf-, als auch Abstieg befinden auch Leute mit Rucksäcken entgegen. Dann wirds eng. Weiter unten führen Auf- und Abstieg auf getrennten Wendeltreppen.

Nun bin ich mitten im Wetter. Sei dein eigener Kachelmann. Ich sehe: Dunst. Es könnte Regen geben, prognostiziere ich. Blick Richtung Iller. Dort scheint das Grau ein bisschen heller. Hoffnung.

Die Wetterprognosenindustrie ist ein Riesengeschäft. Es geht um jede Menge Geld, wenn man einen Wetterdienst betreibt, so zumindest verstehe ich die sporadischen Tweets, die der Kachelmanndienst ab und zu postet, und in denen er als eine Art Abtrünniger unter den Wetterzauberern ein paar Einblicke gibt in die Machenschaften. Wetter wird aus Daten von Wetterstationen berechnet und dann anhand von Algorithmen verschiedenster Natur als eine Prognose dargestellt. Zwei Porgnosen, zwei verschiedene Wetter. Da die Daten von den Stationen Geld kosten, kauft natürlich niemand alle Daten, die zur Verfügung stehen. Stattdessen werden Regionen, in denen man sich den Datenkauf spart einfach interpoliert. Wenn man ganz sparsam ist, kauft man sich zum Beispiel New York und Berlin und zieht dann eine gerade Linie zwischen der Hitzewelle in New York zum Unwetter in Berlin und voilà gibt man überall dazwischen ein angepasstes Symbol aus. Das Beispiel ist natürlich überzogen.

Vom Ulmer Münster melde ich: Regen vielleicht und eine Temperatur zwischen zehn und zwanzig Grad. Ich bin der Wetterbaron des Ulmer Münsters.

Torkelnd vom Drehwurm der Wendeltreppen komme ich unten wieder auf den Markt und frage mich, ob die vermeintlichen Nachtschwärmer, die ich zuvor gesehen habe, nicht vielleicht doch nur oben auf dem Turm waren.

Gegen Mittag schwinge ich mich auf den Iller-Radweg. Meist auf dem Damm am Fluss geht es auf Kieswegen durch Wald flussaufwärts. Es könnte eine langweilige Angelegenheit werden, so wie am Tag zuvor an der Donau. Nur, dass ich meist direkt am Fluss bin und der bietet Abwechslung in Form von zig Wehren, über die die Wassermassen des vielleicht fünfzig Meter breiten Kanals hinabstürzen. Alle paarhundert Meter solch ein Wehr und daneben auch eine Parkbank, um es zu betrachten. Die Iller fließt in Terrassen. Man hat viel Zeit zum Nachdenken über sich, die Tour, die Umgebung, den ganzen Rest. Ist der eigene Lebensstrom nicht auch so eine Art Terrassenfluss? Von Mal zu Mal schwingt man sich eine Stufe höher, erlangt mehr Weisheit, gewinnt Erkenntnisse. Der Vergleich ist ausbaufähig, aber die Kälte von etwa zehn bis zwanzig Grad setzt mir zu und ich mische mich mit der Tristesse des Himmels und sehne mich nach mehr Abwechslung. Aber das ist auch kein Problem. Man muss den Flussweg nur verlassen und findet sich auf Bypass-Radwegen auf ruhigen Straßen wieder auf dem Weg durch die Dörfer und Städte. In Illertissen entere ich eine riesige Backhaus-Halle, ein moderner verglaster Bau mit sechs oder zehn Meter hohem Gastraum. Voller Sonntagskaffeeschlürfvolk. An einem einsamen Tisch sitzt ein Cowboy, ein Typ mit echtem Cowboyhut und Stiefeln, zusammengesunken, schlafend. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Bier. Ich gönne mir ein Stück Himbeertorte und Kaffee und setze mich an den Tisch nebenan; und schlafe prompt auch ein. Was bin ich elend müde und das Gemurmel des Kaffeevolks hat so eine beruhigende, beinahe hypnotische Wirkung.

Erst als jemand in der offenen Schiebetür Scheiße ruft, hinausgeht, sich auf sein klappriges Rad setzt und in den Regen radelt, werde ich wieder wach. Regen also. Dann doch. Kachelmann und ich und die Wetterindustrie hatten also recht. Ein guter Fahrregen. Die Autoscheibenwischer stehen auf langsamem Intervall. Regenjacke ist zwar angezeigt, aber nicht zwingend nötig.

Nahe Memmingen begegne ich einem Mann, dessen weißer Pudel Flocke heißt, und er verstrickt mich in ein höchst interessantes Gespräch zur Landesgrenze. Wir laufen auf der Baden-Württemberger Seite ein Stück nebeneinander. Denke ich. Aber nein nein, sagt er, die Grenze verläuft hier völlig chaotisch, wir sind in Bayern und er macht eine Zick-Zack-Handbewegung. Drüben ist auch Baden-Württemberg und hüben ist auch Bayern. Die Grenze verläuft da, wo der Fluss früher war.

Ein Pandominium der besonderen Art, von Menschen entpandominisiert, sozusagen, aber das ist nur meine saloppe Einschätzung.

Ab Buxheim, also in der Memminger Gegend, nimmt das Illertal endlich eine liebliche Form an. Bei Aitrach quartiere ich mich auf dem Campingplatz ein. Einziger Gast auf der Zeltplatzwiese. Zum Essen gehts zum Steirer Brukwirt im nächsten Dorf. Ein kulinarischer Spießrutenlauf, denn jeden ersten Sonntag im Monat ist hier Musikantenstadel angesagt. Quetschkommode und Gesang, hie und da ein Blechbläser. Das Lied Aber dennoch hat sich Bolle wird angestimmt und zum Glück muss ich nicht im proppenvollen Hauptraum essen, sondern komme nebenan bei den Keglern unter. Ein kühles Bier und ein Gericht von der Steirer-Karte (es gibt auch eine schwäbische Karte und die Schnipo-Klassiker) und ein Blick aus dem Fenster in die Dämmerung: es könnte Regen geben.