Männlein-Meeting

Das ist nicht richtig. Das läuft total quer. Du darfst es nicht zulassen. Die Welt ist korrupt. Wir treiben im Strudel des Konsums. Stechender Schweißgeruch nach 20 Uhr in diesem riesigen Supermarkt mitten in der Stadt. Alle Kassen sind besetzt und die Angestellten mit den gelben Hemden – bei aller Liebe zu Lebensmitteln – sehen gar verdrossen aus. Wenn man allen Schmerz, den die Belegschaft in dieser Sekunde empfindet, Verspannung, Sorgen, Kopfweh, Stress, Unmut und Ärger auf einen einzigen Körper projizieren würde, so würde dieses Wesen auf der Stelle sterben. Mehr noch, es wäre auf der Stelle nie geboren worden, so groß ist das Leid im Monstermarkt kurz nach Acht. Ich brauche Puddingpulver und Grillzeug. Aber wie ich so durch den Markt laufe und mir die Hektik betrachte, die langen Schlangen an den Kassen, die genervten Väter mit den genervteren Müttern und den verdrossenen Kindern, glaube ich plötzlich „Nichts brauchst du, du willst“.

Vor der Tür begegnete mir ein verschwitzter Radler mit mörderisch Gepäck, keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war, woher er kam, wohin er wollte. Meinen Gruß ignorierte er. Der Himmel sah nach Gewitter aus und ein Auto mit Sonderlackierung und Spoilern brauste auf den Parkplatz. Der Auspuff röhrte und aus dem Fenster schallte HipHop. „Männlein“, rief ich ins offene Fenster und flüchtete in den Laden. Männlein nenne ich diese Typen mit dem künstlich aufgemotzten Superschwanz namens Auto.

An der Kasse spürte ich für den Moment rein telekinetisch den verspannten Rücken der Kassiererin. Ich weiß etwas von Rücken. Wie sie hektisch tippte und Kunde um Kunde durchnudelte bis ich an der Reihe war. Ein kurzer Moment Ruhe genügt oft, um Verspannungen zu lösen. Es ist wie wenn man einen Weg in eine Richtung geht unter Qualen und verzweifelt versucht, anzukommen, je eher desto besser, aber an diesen Kassen arbeitend kann man nie ankommen. Man kann sich abends müde in den Schmutz der imaginären Straße legen, um frühmorgens an den Arbeitsplatz zurück zu kehren. Ich glaube, es war mein seltsamer Gruß, der die Kassiererin für einen Moment aus der Hektik befreite. Es war ein interessierter, mitfühlender Gruß, kein dahingerotzter Pflichtgruß, wie wir es schon beinahe instinktiv tun. Sie lächelte dankbar und sie kassierte ein bisschen langsamer, hatte ich den Eindruck. Weiß nicht, ob ich ihr helfen konnte.

Wir sind einfach auf dem falschen Weg, wir Menschen. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, als die Läden um 18 Uhr schlossen, als mittwochs nachmittags grundsätzlich geschlossen war und man montags keinen Friseur auftreiben konnte. Was ist aus uns geworden? Eine Horde hektisch hetzender Marathonläufer, die eher sterben würden, als langsamer ins Ziel zu laufen … ahahaha, Ziel, was hab ich gesagt, Ziel gibt es doch gar nicht. So: wozu die Hektik, warum die Schrauben so unbarmherzig anziehen?

Wieder draußen auf dem Parkplatz, hatten sich zu Männlein zwei weitere Männleins gesellt und an der Motorhaube eines aufgemotzten Polo lehnte eine dick geschminkte Schönpuppe mit Ohrringen so groß wie Radkappen. Na das kann ja ein suuper spannender Abend werden, dachte ich, ab durch die Nacht, laute Disco, Mixgetränke, Zungenküsse, Petting …

Unbedingt Sonderlackierung ans Fahrrad.

Alles

Gut, dass ich das lederne Notizbuch habe. Darin rette ich die Struktur von Ideen. Es ist, als wäre ich ein junger Alexander von Humbold auf der Suche nach fremden Pflanzen, nach Saatgut, nach südamerikanischen Mumien, die ich in leichenschänderischer Schamlosigkeit auf Eseln durch die Anden trage. Jawoll. Mein Notizbuch beinhält all das Fremde, das ich der Welt in Form von Worten nahe bringen möchte. Jedes Wort ein Samenkorn, jeder verkrüppelte Satz eine fremde Pflanze. Und dabei reise ich nicht in die ferne, unbekannte Welt, sondern forsche inmitten des ach-so-bekannt scheinenden Alltags. Aber was ist wirklich gewöhnlich? Wir alle glauben, der Alltag und die Gesellschaft, die wir täglich vor Augen haben, ist bis zur Gänze erforscht.

Paperlapapp.

In den Nischen zwischen dem Gewohnten lauert so viel Neues, so viel Abstraktes, Abstruses, nicht Hinterfragtes, dass Leute wie ich (und wie andere Blogger) es einfach erforschen, notieren, bekannt machen müssen.

Natürlich wende ich in meinem Online-Textwerk eine harsche Technik an, verschiebe die Schablonen des Lebens, suche nach Kongruenz, nach Ähnlichkeit, nach Mustern, nach sich Wiederholendem und bin manchmal bass erstaunt, was daraus gelingen kann.

Ein Hoch auf mein ledernes Notizbuch. Ex-Freundin Kokolores fragte neulich: „Was steht da drin?“ Ich sagte: „Alles.“

Seither sage ich immer bedeutungsschwanger „Alles“, wenn jemand nach dem Buch fragt. Die tolle T. fragte und ein fremder im Zug und die beiden Mädchen heute Morgen, denen ich im Zug gegenüber saß. Ich notierte gerade eine Passage über den Werdegang der Menschheit, in der ich skizzenhaft die Theorie äußerte, dass Kriege mehr und mehr verinnerlicht werden, sich also nicht mehr zwischen den Völkern ereignen, sondern im einzelnen Menschen stattfinden. Dass aus chaotischen Sippenstrukturen Feudalherrschaft wachsen musste und dass die Feudalgesellschaft unweigerlich die Demokratie gebären musste und die junge Demokratie diktatorische Megastaaten hervorbringen konnte, weswegen es zu Kriegen kommen musste. Da aber heute konsumatorische Verhältnisse herrschen und Konflikte über das Wirtschaftsleben gelöst werden können, gibt es bald keine Kriege mehr und der letzte Schritt der Menschwerdung ist, den Krieg in sich selbst anzuzetteln, innerlich zu verzweifeln, krank zu werden, in Scheinwelten zu flüchten – letztenendes fällt die Entscheidung, wie es mit der Menschheit weitergeht beim Psychiater und nicht auf dem Schlachtfeld, konklusierte ich.

All das kritzelte ich ins lederne Notizbuch. Nur wenige Worte, die ich später mal ausformulieren würde. (Nun sind es ja auch nur ein paar Worte, aber ein paar mehr, als im Notizbuch). Die Mädchen gegenüber im Zug zeichneten sich deutlich vor verschwimmender Landschaft ab. Wir saßen im Fahrradabteil und starrten queren Blickes aus dem Fenster. Jetzt ein Fotoapparat!

„Was schreiben sie?“ fragte eine. „Alles“, antwortete ich wie gewohnt und grinste.

Hunderte Künstler gehen nun durch meine Hände. Ich habe direkten Einblick in ihre Bewerbungen zum Kunstpreis. Beklommenes Gefühl, all die Lebensläufe zu überfliegen. Ich kann nur jedem Künstler raten, zu versuchen hinter die Kulissen der Jury zu schauen. Sehr aufschlussreich. Habe ich doch selbst manchmal solche Bewerbungsmappen zusammen gestellt und mir verflixt noch eins den Kopf zerbrochen, was ich da alles reinpacke. Es ist zum Heulen, wie wir alle buhlen müssen, um voran zu kommen, um Anerkennung zu finden.

Gerade eben belauschte ich die Band, die in meinem Atelier probt, wie sie versuchen, den Weg an die Spitze zu finden. Immerhin, die letzten Wochen hat sich einiges getan in ihrer Bandkarriere. Morgen sind sie Vorband bei S.-Mond vor 4000 Gästen. Ihr Hit wird im Radio gespielt. Aber sie haben einen seltsamen Manager, belausche ich, der sie nach Malle bringen will und auf Volksmusikfestivals. Klar. Da ist richtig Geld zu verdienen in der wilden Besoffskis Partybranche. Aber ist es das, was man als Künstler will? Die Interessen des Managers sind nicht die Interessen des Künstlers.

Während ich die Festivalbewerbungen der Künstler im Nachbarstädtchen S. sichte, wird mir endlich klar, wie man eine gute Bewerbung macht: Bleib dir selber treu. Sei ganz wie du bist. Selbst ich, der ich nicht in der Jury sein werde, rieche ganz genau, was hinter den vielen kleinen Bluffs steckt, die mancheiner in seine Bewerbung packt. Ich beschloss, ohne groß Brimborium zu machen, alle meine guten Texte zusammen zu suchen und an ausgewählte Verlage zu schicken. Ich würde mich T. Braven nennen und hätte keine Vergangenheit, sondern nur ein paar schöne Geschichten. Naiv träumte ich, dass man manche Dinge auch um ihrer Selbst willen kaufen könnte, dass man manche Menschen auch um ihrer Selbst willen mögen kann.

Mittags spazierte ich durch die Stadt, betrat aus langeweile ein Billigkaufhaus, in dem es Dinge für 1, 2, 3 und 5 Euro zu kaufen gab. Am Hinteren Ende war ein Loch in der Wand, in das einmal ein Lüfter gepasst hatte. Dort hörte ich Stimmen. Die Leute auf der anderen Seite waren offenbar betrunken. Laut stritten sie. Im Laden spielte plötzlich eine winziges Billigprodukt, strombetrieben: „I love You“, blökte es aus dem winzigen Lautsprecher. Ich ging ohne zu kaufen und betrat den Lebensmitteldiscounter gegenüber. Aus dem Radio dudelte ein Lied: „I love You“. Die meinen wohl mich? Die wollen mich aufheitern. Ich kaufte Milch. Hinter dem Billigladen sah ich auf dem Weg zurück zur Arbeit an die 20 rotnasige Typen und torkelnde Mädchen, umgeben von leeren Flaschen und Bierdosen. Zur Monatsmitte ein letztes Aufbäumen versiegender Stütze.

Was für eine kontrastreiche Welt mal wieder.

Katze wartet im Park

Und wieder keimen Zweifel. Freizeit schrumpft zu einem unschätzbaren Gut. Nicht dass ich mich überarbeiten würde auf der neuen Stelle. Seltsam angenehm fühlt sich alles an, so als würde man von leisem, schmerzlosem Gift eingelullt. Aber ich bin von 6 bis 18 Uhr außer Gefecht. Nun merke ich erst, wieviel Mühe in der Ausformulierung guter Texte steckt. Fürs Ausformulieren guter Texte braucht man 100 Prozent Kopfkapazität. Früher, zu Zeiten der Lohntackerei war es kein Problem, bis drei Uhr nachts wach zu bleiben und Texte zu hacken. Das ist der Vorteil des handwerklichen Jobs: du kannst dein Hirn die liebe lange Zeit in den Ruhemodus schalten, kannst spielerisch mit Gedanken jonglieren, kannst todsterbensmüde arbeiten. Der gute Kollege T. wird dich am nächsten Tag mit bizarren Ideen und Witzen aus dem Wachkoma befreien. Nicht auszudenken, wenn ich auf der neuen Arbeit übermüdet wäre. Sie ist sedierend genug, dass ich einfach einschlafen würde. Das will ich nicht riskieren. Zumal eben auch noch nebenbei gedacht werden muss, sonst leidet die Qualität.

Ein Dilemma. Frau Kokolores hatte schon angeregt, ich solle doch während der Arbeit schonmal vorbloggen … denke gar nicht erst daran! Nicht jetzt. Nicht schon am ersten Tag. Es gibt auch nichts Besonderes zu berichten. Man sitzt am Computer. Man wälzt Aktenordner. Man schaut DVDs. Eine Reise durch die Komödiantenszene der Republik. Das Computersystem fühlt sich gut an. Alles ist herrlich aufgeräumt. Journalist F. wunderte sich, dass man mir, trotz Zeitvertrag schon den gesamten Jahresurlaub gutgeschrieben hat. „Was haben die mit dir vor?“ rätselte er.

„Ich werde den Urlaub nächste Woche nehmen und zusammen mit Kollege T., pardon, Ex-Kollege T., nach Santiago pilgern“, scherzte ich.

Morgens erwachte ich aus einem merkwürdigen Traum: Ich lebte in der Großstadt, hatte gerade die Katze zum Tierarzt gebracht und transportierte sie auf meinen Armen per U-Bahn, Bus, zu Fuß, in einem Spießrutenlauf durch den bedrohlichen Stadtdjungel. Immer wieder floh die Katze, was mir beinahe das Herz stehen machte, und ich musste sie verzweifelt suchen. Bäuchlings in einer verrotzten U-Bahn unter den schmutzigen Schuhen verlodderter Junkies spähte ich nach dem Tier, kroch durch Staub, Schleim und Undefinierbares, bis ich das Tier wieder hatte. Umsteigen. Die Katze krallte sich in meinen Arm, wimmerte, dann floh sie erneut. So ging das kreuz und quer durch die ganze Stadt, ich benutzte Busse, lief durch düstere Gegenden, verlor die Katze, fand sie wieder. Bemerkenswert war die Passage, durch die uns ein zweifelhafter Kerl mit grauen Haaren führte, uns die subkulturellen Sehenswürdigkeiten, verkommene Punk-Schuppen zeigte, hinauf auf die Dächer. Dort traute ich mich nicht weiter, wegen Absturzgefahr, aber die Katze balancierte hinter dem Kerl, der uns führte auf schmalem Grat und auf der anderen Seite warteten beide fordernd, mutmachend, so dass auch ich es riskierte, überlebte.

Katze und ich gelangten schließlich in einen riesigen, blühenden Park. Im Zentrum eine Alte Villa. Ein kulturell hochwertiges Konzert war im Gange. Der grauhaarige Saxophonist outete sich als Hausherr, er habe Villa und Park gekauft, nun da er in Rente ist und mit diesem Konzert übe er, denn er wolle gerne den 3. Preis bei einem Jazzfestival in Luxemburg gewinnen. Sein Lebtag habe er geschuftet und nun widme er sich voll und ganz dem Saxophonspiel.

Die Katze war verschwunden. In dem schönen Park wird sie gut leben, dachte ich, „darf ich sie hierlassen?“ fragte ich den Sax-Man und erwachte.

Essen für Wolfgang

Es gaukeln zu viele Geschichten. Ich komme mit dem Ausformulieren gar nicht nach. Morgens surfte ich müde im Netz und blätterte literarische Begriffe: Hyperbel und Ellipse, was mich zu der Vermutung veranlasste, irgend etwas verwechselt zu haben. Mathe und so. Dabei lehrt Wikipedia, dass gerade der Satz „Mathe und so“, als Beispiel für die Ellipse stehen könnte – wenn man dem Internet glauben darf. Irgendwas kurzes halt, abgehackt, spröde dahin gespuckt, unvollständig. Eine Technik, um Vieles auf engstem Raum zu sortieren und dem Text ein bisschen Speed zu geben.

„Hm“, denk ich, „ideal, um die letzten Ereignisse zu notieren“. Jene Radeltour mit Kollege T. und der tollen T. Wir besuchten vier Hütten in der Gegend, in der die schrägsten Typen, die das Land zu bieten hat, hausten, bedienten, vorbeischauten, ihr letztes Geld verzechten:

Hütte 1 wohl am Normalsten, außer dass dort ein Storch manchmal bis zu den Tischen stolziert. Am liebsten mag er weiße Bratwurst.

Hütte 2 mitten im Wald bei einer Klosterruine. Hagerer Kerl in gelbem Auto fährt vor. Autoradio spielt Countrymusik. Man kommt ins Gespräch und der Kerl entpuppt sich als Kanadier, als Holzfäller, als Rocker: „Entspann‘ dich, wir sind Rocker“, sagt er immer wieder, will uns Wildschweine aufschwätzen, „200 Euro“, serviert Bier, dreht seltsame Zigaretten.

Hütte 3 zeichnet sich durch eine Lautsprecheranlage aus, durch die den Gästen-Selbstabholer gesagt wird, wann ihr Essen fertig ist. „341“ tönt es. Jemand steht auf, holt das Essen. „342“, das bin ich, „der Typ mit den Pommes“, fügt die Stimme hinzu. „Find ich gar nicht gut“, sag ich zu den beiden T.s, „die brandmarken mich als Billigpommeskäufer. Ich kann doch jetzt nicht nach vorne laufen“. „Stimmt“, sagt die tolle T., „dann sehen nämlich alle, dass du gar keine Radlerhose trägst, sondern eine lange Unterhose.“

Mist, dass die das bemerkt.

Später bizarrisiert sich der Lautsprecherruf: „Chicken für Wolfgang“. Wir lachen. Lachen eine Minute später herzhafter, als es heißt „Schnitzel für Wolfgang“ und wieder später, „Essen für Wolfgang“.

Muss ja ein hungriger Mensch sein, dieser Wolfgang.

Hütte 4 liegt deshalb am Ende der Tour, weil es da das Bier fast geschenkt gibt und die verrücktesten Leute, meist über 60, rumhängen. Eigens haben sie einen Verein gegründet mit dem Namen S.er Landleben, in dem der Mitgliedsbeitrag nichts kostet und der entsprechend 700 Mitglieder hat. Kollege T. und ich überlegten, dem Verein beizutreten und ehrenamtlich die Hütte zu bewirtschaften. Für immer für Freibier. Zunächst aber verzechten wir unser letztes Geld.