Die Sorge, ein Eisberg, deren Gipfel ein Ereignis ist

Bei Regen verwandeln sich die Spurrinnen der E8 im Nordwesten Finnlands in kilometerlange längliche Pfützen. Tollplätze der LKW und rasanter finnischer Pickups. Fast drängt sich das Bild auf einer hundert Kilometer langen Wildschweinsuhle für Blechernes. Kein Wunder, dass vor zwanzig Jahren die Reiselust hier, so kurz vor dem Nordkap auf einen Nullpunkt sank.

Etwa hundert Kilometer radelten Freund QQlka und ich ab Pajala über die Hauptstraße nach Muonio und weiter bis Palojoensuu, wo endlich eine ruhigere Straße nach Nordosten abbog.

Es regnete in Strömen. Bei Regen hört sich das Schneiden von Gummi auf Teer noch viel kompakter, noch viel schneidender an, als es dies bei trockener Fahrbahn tut.

Unter einem Vogelschutzturm bauten wir erschöpft das Zelt auf und es war klar, die Tour ist zu Ende. Bloß noch raus hier aus dem weiten Nichts, das nur aus einer Straße besteht und ein paar krüppelwüchsigen Bäumen, Moos und viel Wolke um uns herum.

Gut, dass ich mich an den E8-Horror erinnerte, als ich vorgestern in Pajala vor der Wahl stand, den kurzen Weg über Finnland zu nehmen, oder etwa achtzig Kilometer Umweg über Karesuando und dann am Fluss nur gut 35 Kilometer E8 bis zu Verzweigung Palojoensuu zu radeln.

Die Straße 99 nach Karesuando auf der schwedischen Seite ist so gut wie unbefahren. Sie ist auch als Sverigeleden ausgezeichnet mit den bekannten grünen Radwegschildern, die mich seit Südschweden begleiten. Nicht nur sonntags, auch montags, sprich werktags tut sich da nichts – für Sie getestet.

In Karesuando ruhe ich eine Weile, lungere in der Touristinformation direkt an der Grenzbrücke und lümmele auf einer Parkbank vor der Kirche, schicke ein paar iDogma-Postkarten durchs schnelle schwedische Netz. Von Stechmücken keine Spur. Strahlend blauer Himmel. Windstille. Immer mehr zweifele ich am lappländischen Mückenmythos.

Klar war es eben noch, vor etwa dreißig Kilometern da hinten in den Niederungen im Niemandsland ziemlich nervig, anzuhalten und die zehn-Kilometer-Streckenfotos zu schießen, aber selbst das war nicht so, wie ich es mir im Kopf zurechtgebaut habe mit den Stechmücken.

Unerträglich.

Lästig.

Nicht auszuhalten.

Die Sorge ist ein Eisberg, deren sichtbares Ende ein Ereignis ist – so winzig wie der Gipfel eines Eisbergs eben.

Auch die E8-Sorge ist groß in meinem Kopf. Gegen halb fünf nachmittags radele ich endlich rüber und … finde mich auf einem erträglichen, aber sehr engen Stück Landstraße wieder. Mäßiger Verkehr, zudem nicht zu schnell. Etliche LKW. Der Münchner Radler, den ich in Pajala getroffen hatte, könnte recht haben: alle Minute ein LKW. Auch wenn es nun, gegen Feierabend, bei mir nur etwa alle fünf Minuten einer ist. LKW sind grundätzlich unheimlich.

Nach etwa dreißig Kilometern stellt sich mir dieser wunderbare Lagerplatz in den Weg. Eine kleine Anhöhe direkt am Fluss in einem Wäldchen. Goldenes, ewiges Abendlicht. Hier muss ich einfach bleiben. Noch zehn Kilometer sind es bis zum Abzweig von der Hauptstraße. Ich riskiere das, sie erst am nächsten Tag, womöglich bei viel Verkehr zu fahren.

Badestelle. Wäsche waschen. Mich waschen. Herz, was willst du mehr? Und: so gut wie keine Stechmücken.

Die Geschichte des Mythos Lappland Mückenland muss wohl endgültig neu geschrieben werden. Ein Blick hinüber auf die schwedische Seite: radeltest du nicht vor ein paar Stunden ebenda durch die Niederungen und fluchtest über die vielen Insekten, Herr Irgendlink?

Abends rollte noch ein Kühllaster auf den Parkplatz unweit meines Lagers, nerviges Kühlaggregatebrummen. Willkommen zurück in der Zivilisation. Ein paar Wohnmobile parken auch auf dem Platz und das Schild an der Tür zum Plumpsklo hat ein Einschussloch. Die Besitzerin der Fischerhütte, die dirkt daneben steht, und in der man theoretish Kaffee trinken könnte, wenn offen wäre, kommt herangebraust, springt aus dem Auto, nickt. Ihr Pudel markiert erst einmal das Revier. Alleine bin ich hier nicht.

Nun, um 5:15 finnischer Zeit, die Finnen sind uns Resteuropäern um eine Stunde voraus, kommt die Sonne raus, vertreibt den Nebel, der über dem Fluss hängt. Die Straße ist noch ruhig. Ich bin unruhig, vermute mehr LKW ab etwa 7 Uhr.

Eigentlich wollte ich einen Artikel über weltweites Grundeinkommen und Urheberrecht schreiben, aber dafür baut mein Hirn gerade zu sehr an dem Sorgeneisberg der zehn Kilometer E8, die mir noch bevorstehen.

Packen. Losfahren, es hinter sich bringen.

9 Antworten auf „Die Sorge, ein Eisberg, deren Gipfel ein Ereignis ist“

  1. Diese Ängste, die sich wie Atome spalten und vergrößern, rasanter als Lawinen!
    Oh ja, ich kenne sie bestens. Nun hoffe ich, dass ihre Ursachen (wie ja meistens) grundlos oder zumindest nicht so fürchterlich wie gedacht sind.
    Die Daumen sind gedrückt!

  2. Möge es so weitergehen, daß die Befürchtungen die langen Schatten bleiben, die von Zwergen geworfen werden.
    Aber so ein Streckenfoto, auf dem man vor lauter Mücken die Strecke kaum sieht, würde dem Ganzen natürlich Dramatik verleihen. .)

  3. Lieblingssatz: „Die Sorge ist ein Eisberg, deren sichtbares Ende ein Ereignis ist – so winzig wie der Gipfel eines Eisbergs eben.“

    Komm gut durch … und weiter.

    Lieber Gruß
    Ele

  4. Hallo Juergen,
    LKWs, hier sind es die riesigen 18-Wheelers, sind mir auch nicht geheuer. Die waren der Grund, warum ich in Karnes City das Radeln aufgegeben hatte. Nach dem Beginn des Ölbooms hatten diese Trucks sich vermehrt wie Karnickel. Vorher hatten sie noch wirklich Rücksicht auf Radler genommen und beim Überholen wirklich großen Abstand [oft auf die Gegenfahrbahn ausweichend] gehalten bzw., wenn das nicht möglich war, hinter einem ganz langsam fahrend gewartet, bis sich eine gute Gelegenheit zum Überholen bot. Aber mit Einsetzen des Ölbooms wurde es schlagartig anders: LKW-Fahrer unter Zeitdruck, die eine oft mit vollem Tempo so dicht überholt haben, dass man den Truck hätte berühren können.
    Das ist nun hier in der Umgebung von Fredericksburg ganz anders, weil einerseits längst nicht so viel Trucks unterwegs sind und ich andererseits die großen Highways wunderbar vermeiden kann – bis auf ganz kurze Abschnitte.
    Wovor ich allerdings immer noch und immer mehr Angst habe, das sind die Leute, die unbedingt beim Fahren SMSen müssen. Das ist hier mittlerwiele eine ganz häufige Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Aber auch da helfen zum Teil die kleinen Sträßchen im Hinterland von Texas Hill Country.
    So, und nun wünsche ich Dir nur angenehme Begegnungen und weiterhin safe bicycling,
    Pit

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