Wie Davy Jones tausend Jahre verwachsen mit einem Ostseehafen #AnsKap

Den Hirnreaktor runterfahren, die synaptisch kosmodämonischen Brennstäbe herausziehen, um eine Schmelze zu verhindern, Körper und Geist klingen am Besten gemeinsam, wenn sie eine ähnliche „Geschwindigkeit“ haben.
Hanebüchen, Herr Irgendlink, hanebüchen. Hat man Ihnen Ihr Hirn weichgekocht auf all den tausenden Kilometern, die Sie in den letzten Wochen geradelt sind?

Das Zelt steht neben einem achteckigen Pavillion, in dem gut und gerne eine kleine Partygesellschaft Platz haben könnte. Von Westen schützen ein paar Birken vor Wind. Die Wiese ist gut. Frisch gemäht. Kaum Stechmücken, die sich darin verstecken könnten. Dafür sorgt auch schon der emsige Westwind, der gestern Abend Regen herbei geblasen hatte.

Den kleinen Ostseehafen von Båtskärsnäs habe ich mir irgendwie quirliger vorgestellt. Mit Kaimauer, größeren Kuttern, Fischkisten und so weiter. Aber es ist ein ganz normaler Yachthafen ohne groß Ausbau. Einen Kran gibt es und ein paar Maschinen zum Boote ein und Auswassern. Fischerei Fehlanzeige. Båtskärsnäs ist ja auch nur ein winziges Dorf am allerallerobersten Zipfel der Ostsee. Vielleicht der nördlichste kleine Hafen der Ostsee überhaupt?

Es ist nicht leicht, ohne jegliches Kartenmaterial, einzig ausgestattet mit einer gedownloadeten Karte auf dem Smartphone, Informationen über die Gegend zu kriegen.

Ich wollte eigentlich einen Campingplatz hier in der Nähe ansteuern, mal wieder heiß duschen, Kleider waschen, ein bisschen relaxen, bevor es auf die letzten, geschätzt 900 Kilometer zum Nordkap geht. Auch noch mal in der Ostsee baden wäre schick. Es ist sehr sommerlich diesertage hier oben. Nicht so heiß, wie daheim, einfach sommerlich und gut radelbares Wetter.

Durch die rasanten Etappen der ersten Tage ab Falun und eine, vermutlich, Fehlberechnung der letzten 2300 Kilometer ans Kap, die gar keine 2300 Kilometer sind, habe ich nun viel Zeit zum Rumtrödeln.

Ich muss mich allerdings regelrecht zum Nichtradeln zwingen.

Das ist gar nicht so einfach, wenn es eigentlich kaum etwas zu sehen gibt, als Straße und Wald und Briefkästenensembles vor Waldwegen, mal ein paar Rentiere auf der Straße, ab und zu eine Sandgrube, Hochsitze und Stromleitungen.

Die Städte sind zig Kilometer voneinander entfernt. Sie sind auch nicht so opulent und sehenswert. Das Leben scheint sich in schwedischen Städten vorwiegend in Shoppingcentern abzuspielen. Große Komplexe mit vielen Läden mitten in den Städten, in denen man rumlungern kann und gucken, kaufen, lungern, gucken.

Verloren im Supermarkt. Ein Lied von The Clash dudelt einem dann sogleich im Kopf: Lost in the Supermarket. Es hat so was Resigniertes, das Lied, obwohl ich den Text gar nicht kenne.

Der Konsum ansich hat auch so etwas Resigniertes. Das ist mir schon in Falun aufgefallen. Die Tristesse, eingesperrt im Kauf, zu ewigem Geben und Nehmen verdammt. Gib Arbeitskraft, Nimm Gegenstand, um es mal darauf zu reduzieren.

Das wird einem hier oben, draußen, wo es nur noch Welt und Mensch gibt und sonst kaum eine Bespaßung oder Ablenkung umso bewusster. Wir sitzen gefangen in einem gigantischen, globalen Hamsterrad, das wir gemeinsam antreiben und versuchen verzweifelt, irgendwelche goldenen Vorhänge vorzuziehen, bloß um uns die Illusion aufrechtzuerhalten, das was um uns vorgeht, macht einen Sinn, unser Tun und Streben hat einen Sinn.

Vielleicht hat mir die viele Natur das Hirn zermürbt, dass ich auf solch triste, sagen wir mal sogar lebensbedrohliche Gedanken komme. Eine Art natürliche Lethargie macht sich in mir breit. Das fühlt sich aber nicht etwa depressiv oder traurig an. Es ist mehr so dieses Erstaunen, dieses Aha, das man der Wucht der Welt entgegen bringt, wenn man erkennt, wie winzig und wie klein man als Mensch doch ist und wie vergänglich.

Knochen liegen im Straßengraben. Ein Eichhörnchen, halb zerfetzt, mitten auf der Straße. Das Blut ist noch rot. Überall ist Tod und Auferstehung und Gebären und Leid und Freud. Scheint so, dass es sich dann, wenn man kein buntes, selbst geschaffenes Entzücken aus Konsumgütern und Geld mehr um sich hat, viel direkter auf einen Eindrischt.

Was?

Die Erbarmungslosigkeit des Lebens ansich. Dass es eigentlich doch nur eine art biologischer Multimechanismus ist, nach dem die Welt funktioniert, dass dieses denkende Ich, das in mir sitzt, das ich bin nur ein Funke ist, der kurz in der Ewigkeit blitzt und dann für immer verlöscht.

Was sehne ich mich nach einem Kinobesuch, irgendwo in Deutschland oder der Schweiz in irgendeinem lustigen Film. Einem Spaßbad oder einem Open Airkonzert oder einem Besuch in einem Technikmuseum. Egal. Irgendwas, was den goldenen Vorhang wieder vor meine Augen zieht, damit ich weiter an die Illusion der Ewigkeit des gelebten Lebens glauben kann und daran, dass das, was ich tue, was wir tun, was vorgeht in dieser Welt einen Bestand hat.

Die Risse im Asphalt des Radwegs am Kalix Älven zerstören diese Illusion. Ein zwei Jahre nichts tun, ein zwei Jahre keine Menschen, die hier Hand anlegen, und der Weg sieht aus wie nie gewesen. Schon jetzt drängen sich Birkenschößlinge neben Gras aus der Narbe im Teer.

Mir graut vor der Vorstellung.

Einen schönen Endzeitfilm, in dem genau das stattfindet, in dem genau diese Szene vorkommt, könnte ich jetzt gerne im Kino schauen, Dolby Sound und Breitbild, dazwischen eine Pause für Eis und Chips und Bier. Richtig Spaß haben könnte ich an der zur Fiktion degradierten Realität auf der Kinoleinwand.

Statdessen hier zu kurbeln auf dem grauen Band, das niemals endet und das irgendwann einmal so aussehen wird, als wäre es nie dagewesen, ist hart.

Es regnet mich ein gestern Abend. Kurz bevor ich den angepeilten Campingplatz erreiche. Leichter Nieselregen, Wind, Ekelwetter. Ich bin das kaum noch gewöhnt. Seit Beginn des zweiten Radelabschnitts ab Falun hatte ich regelrechtes Wetterglück.

Vier Kilometer vom Campingplatz strande ich unter dem Vordach eines Hafengebäudes. In den Hallen wird noch fleißig gearbeitet. Es mag 19 Uhr sein. Ich habe keine Lust, die Regenkleider rauszukramen, also klopfe ich an einem Bürofenster, jemand öffnet, schaut mich freundlich an, ich frage, darf ich da drüben neben dem Pavillon auf der Wiese mein Zelt aufbauen.

Aber klar darfst du. No Problem.

Nun beim Frühstück im Schneidersitzbüro beobachte ich das Hafentreiben. Jemand schaufelt Erde mit dem Bagger. Der Schiffskran quietscht. Autos fahren an und ab. Niemand nimmt Notiz von mir, bzw. es ist so, als gehöre ich dazu. Teil des Hafens in einem kleinen schwedischen Dorf an der Ostsee.

Das ist wie Davy Jones in Fluch der Karibik. Tausend Jahre Teil eines gesunkenen Kahns sein.

Hach und gerade hätte ich echt Lust, mir die Fluch der Karibik Filme anzuschauen.

4 Antworten auf „Wie Davy Jones tausend Jahre verwachsen mit einem Ostseehafen #AnsKap“

  1. ich lese gerade ein sehr schlaues Buch von Ursula Seghezzi über den Wandel- über den Wandel, der sowieso immer stattfindet und den Wandel, den wir so dringend auf unserem wunderschönen Erdenball brauchen- es fehlt ja nicht an Ideen, es fehlt auch nicht an teilweiser Umsetzung, was fehlt ist ein globales Umdenken, was aussichtslos erscheint.
    Strassen auf denen Bäume wachsen sind mir kein Greuel, eher eine Hoffnung …
    danke für deine Gedanken und hab einen guten Tag wie und wo auch immer noch
    herzlichst Ulli

  2. Die Natur ist grausam, sie holt sich irgendwann alles zurück, wenn der Mensch seine Bauten nicht pflegt wie die Straßen. Schon mal gesehen, wie sich ein Krokus durch den Asphalt schiebt? Hatte mich vor Jahren mal geschockt.
    Natur gibt keinen Sinn vor, die einfache Reproduktion reicht ihr, Sinn muss man sich selber geben. Im Gewahrsein ohne „goldenen Vorhang“ könnte Erkenntnis liegen, trotz der Schwermut die Stille und Einsamkeit manchmal hervorrufen.
    Das Rad der zeit steht nie still. Wie ein Perpetuum mobile dreht es sich rastlos weiter, ob wir bleiben oder gehen…
    Lieben Gruß auf die Weiterfahrt dann!
    Gerelca

    1. Danke liebe Gerelca. So wahr, dass die Natur nie still steht. Bloß wollen wir das nicht wahr haben, bzw. nicht wahr haben, dass wir Teil davon sind.

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