Nicht auszudenken, wenn der, der das Stromkabel anfasst einmal Bundeskanzler wird.

Im Südpfalzzug sitzen drei Jungs im Abteil gegenüber. Unfreiwillig werde ich Zeuge ihrer Fachsimpelei um Strom, Handys, Elektrotechnik.

Das Kabel kann man problemlos anfassen, sagt einer, es bitzelt ein bisschen, klar, ist ja Strom drauf. Wieviel Volt denn, fragt ein anderer. Och, so 220 Volt. Ganz normaler Strom halt. Sie starren ihn an wie einen weisen Helden.

Im Verlauf des Gesprächs identifiziere ich den Stromkabelanfassmann als den Wortführer und ich meine zu erkennen, dass die beiden anderen zu ihm aufblicken. Mit fester Stimme beantwortet er alle ihre Fragen, wirkt dabei so sicher, dass er ganz klar seine Führungsrolle im Abteil einnimmt.

Ich erinnere mich an Begebenheiten, in denen ich in solchen Gruppen saß und es wurde debattiert und Wahrheiten wurden formuliert und Wissen wurde fest wie Metall zu wohlgeformten Lehren gedengelt. Es waren immer die Lauten und Selbstsicheren, die die Wahrheit schufen. In Steckdosen kann man getrost den Finger reinstecken, das bitzelt nur ein bisschen.

Es ändert sich wohl nie, dass die Lauten, gegen die Besonnenen siegen, wenn es darum geht, im Strom der Ungewissheit so etwas ähnliches wie Wahrheit zu gestalten.

Versunken in eigene Gedanken, drifte ich ab in die große weite Welt der Meinungsmachung und der Wer-bestimmt-wohin-die-Reise-gehts. Auch in die Politik. Ich scheue mich vor dem Gedanken, dass etwa die Lauten auch in der großen, weiten Menschenpolitik sich gegen die Besonnen durchsetzen und ihre Art der Wahrheit gestalten, die so ganz und gar nichts mit dem tatsächlich Wahren zu tun hat.

Vorbei fliegt der Pfälzer Wald. Das Schwarzbachtal. Ah, dann kann ich ja dich fragen, höre ich einen der drei Jungs. Beinahe ehrfüchtig klingt das. Im Spiegel des Fensters sehe ich ihn aufblicken zum Stromspezialisten: Wieviel Ampere sind 5000 Milliampere? Der Spezialist überlegt kurz: 500. Ha, dann hat sich der Soundso geirrt, der meinte nämlich, es wären nur fünf. Das kam mir auch ein bisschen wenig vor.

Ich bin kurz davor, in das Gespräch einzugreifen und eine Predigt über das Wörtchen Milli, auch bekannt aus solch famosen Filmen wie „Millimeter der Entscheidung“ und „Millibar der Erkenntnis“, zu halten. Auch der Hinweis, gib doch bei Google einfach „wieviel ist 5000 mA in A“ ein, liegt mir auf den Lippen, doch die Jungs haben das Thema Milliampere längst abgehakt und sind in ein Gespräch über Smartphones eingebogen. Wie teuer, woher man sie am Besten bezieht, mit einem Exkurs in die Verbraucherrechte, Gewährleistung und Werksgarantie und solche Worte fallen, so dass mir die Ohren dröhnen. Später brilliert der Stromspezialist noch mit der Wahrheit, dass man im iPhone den Akku nicht wechseln kann, weil man es A: nicht aufmachen kann und weil B: der Akku fest verklebt ist.

Beim Aussteigen aus dem Zug habe ich das schale Gefühl, die Welt einem schlimmen Schicksal überlassen zu haben.

Ans Kap – eine Livereise mit Fahrrad, Blog und Twitter.

Aus der Serie Kapschnitt 1995

Von Zweibrücken über Mainz nach Alta und bis zum Nordkap wird meine nächste live gebloggte Kunststraße führen. Hierbei begebe ich mich auf eine Spurensuche sowohl in der eigenen Entwicklung als Künstler, Blogger und Webliterat, als auch in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung des Kontinents, in/auf dem ich lebe.

Ich arbeite zurzeit an einer Karte zur Rekonstruktion der Kapschnitt-Reise aus dem Jahr 1995. Sie ist offiziell die erste Kunststraße, die ich gebaut habe. Auf den gut 3600 Kilometern durch Deutschland, Schweden, Finnland und Norwegen habe ich alle 10 Kilometer gestoppt und ein Streckenfoto der bereisten Straße aufgenommen (fast wie die heutigen Google-Streetviews, nur eben im schwarz-weiß Vintage-Stil).

Hier kann man die Karte sehen (https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=zglBcpTICeSo.kPEpLshlMq28). Sie befindet sich noch in Arbeit. Die Streckenrekonstruktion erfolgt auf Basis von Notizen, die ich in einem Reisetagebuch gemacht habe. Alle Bildstandorte sind darin verzeichnet. Es gab 1995 noch kein GPS.

Am 15. Juni werde ich mich auf meine eigenen Spuren begeben und die alten Bildstandorte suchen. Was vor zwanzig Jahren als Konzeptkunstidee geboren wurde (genannt Kunststraße), hat sich weiter entwickelt zu einem interdisziplinären Kunst- und Literatur-Genremix, der sich beinahe in Echtzeit in Blogform darstellen lässt. Sowohl die technische Entwicklung (GPS, Mobilfunk, Internet), als auch der geografische, politische und verkehrstechnische Reifeprozess in einer rasant sich wie von Zauberhand selbst digitalisierenden Welt werden in dem Liveblogexperiment reflektiert.

Diesseits und jenseits der digitalen Revolution könnte der Arbeitstitel dieser Geschichte sein. Neben der rein physischen Reise durch Deutschland und Skandinavien tritt der Künstler auch eine Reise durch die jüngste Geschichte an, politisch, geografisch und technisch sind wohl nie so viele bahnbrechende Ereignisse auf engstem Raum eingetreten wie in diesem Jahrzwanzigst. Von “Windows 95″ bis Ubuntu “Snappy”, von papierenen Landkarten bis zum GPS, von Null bis Facebook, Twitter und noch ein Stückchen weiter hinein in die Cloud. Die Reise führt vom Europa der Grenzen und vielen Währungen in ein vereinigtes Etwas von 28 Staaten.

Manche Bloglesende erinnern sich bestimmt an die Fahrradreise „Ums Meer„, die im Jahr 2012 vier Monate lang live auf irgendlink.de mitzulesen war. In täglichen Berichten und Bildern konnte man, fast in Echtzeit, das Geschehen der Reise verfolgen, ganz ohne dabei nass oder vom Wind verweht zu werden ( :-) ). So ähnlich wird „Ans Kap“ auch werden. Ich habe einige neue Ideen und Aspekte, die ich mit einbringen möchte. Das Wichtigste dürfte wohl der Versuch sein, die Reise auch auf Twitter mit Kürzestmeldungen abzubilden. Ob das funktioniert? Ihr werdet es sehen, ich wohl auch. Hier geht es zum Irgendlink’schen Twitteraccount (https://twitter.com/irgendlink).

Wie wohl der verbeulte Blechspiegel in Bergby aussieht, in dem sich die Kirche spiegelt?

Aus der Serie Kapschnitt 1995

Ob wohl der windschiefe Holzschuppen noch steht, in dem Reisegefährte und Galerist QQlka und ich vor einem Gewitter Schutz suchten?

Schutz suchen in einer Scheune Kapschnitt 1995
Schutz suchen in einer Scheune Kapschnitt 1995

Ob die Straße in Schonen fertig ist, an deren Umleitungsbaken wir eine Rast einlegten?

QQlka in Schweden Kapschnitt 1995
QQlka in Schweden Kapschnitt 1995

Und fast schon einen Tweet wert: Ob der um zwanzig Jahre gereifte Künstlergeist dem um zwanzig Jahre gealterten Künstlerkörper noch seinen Willen aufzuzwingen vermag? Schaut mal rein, drüben bei Twitter. Hier nochmal der Link: Irgendlink’schen Twitteraccount

Irgendlink im Schreibtraining

Die Grippe, oder vielleicht ist es auch eine Impfnebenwirkung des letzten Dienstag verabreichten Tetanols, lässt endlich nach; nach fast einer Woche Gliederschmerzen, Fieber, Rumliegen, nichts denken, nichts tun, nichts wollen. Von allem, „was man halt so tut“ ist eine weiße Wand anstarren noch das Angenehmste. Dazu dieser „äußere“ Sturm, Niklas, der über das ganze Land gezogen ist und etliches verwüstet hat … irgendwie kommt mir mein Leben manchmal vor wie ein Roman. Diese eigenartigen Parallelen zwischen dem persönlichen Erleben in einem drin und dem, was um einen so vorgeht. Besser könnte man sich das gar nicht ausdenken, so als Schreiber. Aber ich fühle mich echt. Ich bilde mir das nicht alles nur ein. Ich bin ich. Ganz sicher.

Natürlich habe ich in den Krankstunden der letzten Tage nicht nur nichts getan, nicht nur einfach so eine weiße Wand angestarrt. Sondern sogar etliches geschrieben, getippt, auf Twitter in die Welt hinaus gejagt. Der Kurznachrichtendienst mit den 140 Zeichen ist mir ein liebes Spielzeug geworden.

Man kann darüber sagen, was man will, wenn man sich damit beschäftigt und die Sache einen packt, kann man – zumindest als Künstler und Schreiber – viel Spaß daran haben und sogar auch noch etwas ganz Besonderes lernen: Kürze. Die Eingabemaske für einen Tweet zeigt dir genau, wieviele Zeichen du schon verwendet hast. Bei 140 ist Schluss, inklusive aller Links und Namen und den soganannten Hashtags, den Schlagworten, die mit einer Raute # eingeleitet werden.

Wenn man eine Aussage machen will, die länger als 140 Zeichen ist, muss man sie entweder in zwei Tweets aufteilen oder sich selbst eine Antwort unter dem Tweet schreiben. Dann wird der Rest des Textes in 140-Zeichen-Portionen angehängt, oder man muss mehr oder weniger elegant kürzen.

Natürlich ist elegant kürzen meine oberste Priorität. Elegant kürzen heißt nicht etwa, die Worte einfach abzukürzen oder sie zusammenzuschreiben oder sonstwie Verstümmelungsmaßnahmen vorzunehmen, sondern man muss den Tweet in seiner Konsistenz so verändern, dass er in echten Worten genauso rüberkommt, wie sein überlanges Original.

Kurz. Twitter  kann, neben viel Spaß und menschlicher Kommunikation, dem Schreibenden auch eine Stil-Schule sein.

Wenn ich die Muse habe, werde ich diesen Blogartikel später noch mit Twitterkriterien umformulieren … ja, wenn ich es genau bedenke, sollte ich dieses, im Maschinengewehrtakt dahin getippte Textwerk tatsächlich noch einmal filtern, Füllworte und Redundanzen entfernen, unnötigen Schmuck über Bord werfen usw.

Aber im Grunde, das ist widerum die andere Seite der Schreibmedaille muss auch der direkt getippte Rohtext, zumindest bei uns live schreibenden Autoren, gelten dürfen. Mit all seinen Irrungen und Vertippern. Denn das Blog als direktes Veröffentlichungsmedium, ein Klick und weg, gehört genauso zur Pallette, wie der hochgezüchtete, komprimierte, perfekte Tweet.

Jaja, der Herr Irgendlink ist auch wieder am Schreiben üben, was im Prinzip ganz ähnlich funktioniert wie das Fitnesstraining auf dem Fahrrad. Ohne Training keine Fitness.

Auch habe ich mir den alten Kapschnitt-Text von 1995 vorgeknöpft. Das Tourtagebuch, in dem ich das Kunstprojekt von einst notiert habe. Auf vielleicht 80 DIN A 5 Seiten habe ich sämtliche Standorte der Fotos notiert, die Freund QQlka und ich auf der sechswöchigen Reise zum Nordkap gemacht haben, sowie ein knappes Reisetagebuch, das intensiven Einblick in die eigene Befindlichkeit gibt.

Ich will ehrlich sein: das Lesen der alten Texte – ich mache das zum ersten Mal im Leben, dass ich eigene Tagebucheinträge lese – fällt mir einerseits beklommen peinlich schwer, andererseits, so übel sind die Notizen auch nicht. Wenn ich nicht Ich wäre, sondern ein Fremder, hätte ich womöglich richtig Spaß, das zu lesen. Der Inhalt des Reiseberichts macht mir jedoch große Sorgen. Es klingt so, als hätten wir doch nicht nur Sonne und Sommer gehabt unterwegs und als wäre die Reise ganz und gar nicht so reibungslos verlaufen, wie ich sie mir in der Erinnerung schönrede.

Ein paar Fragen tauchen denn auch unweigerlich auf.

Kann ich das, was wir damals, jung und fit zu zweit nicht schafften, nun, zwanzig Jahre später, alleine schaffen?

Warum haben wir diese Reise damals eigentlich gemacht?

Warum sollte ich sie heute machen?

Welche Alternativen gibt es?

Bin ich körperlich und seelisch überhaupt in der Lage, zum Beispiel zwei bis drei Wochen Dauerregen des Schreckens durchzustehen?

Insbesondere ein Eintrag vom Ende der Reise, wohl der Tag, an dem wir den Abbruch beschlossen, gibt mir zu denken. Dauerregen und Kälte in der Finnmark. Weit und breit kein Haus, kein Vordach, nichts, um sich unterzustellen. 24 Stunden lang stellten wir uns bei einem Vogelbeobachtungsturm unter und warteten auf Wetterbesserung. Das war mehr ein symbolischer Unterstand, als ein Wind- und Regenschutz. Etwas von Menschen gemachtes mitten in der Wildnis, das seine anheimelnde Wirkung in Form von gehobelten, verschraubten, imprägnierten Holzbohlen entfaltete. QQlka donnerte einmal aus Wut sein Fahrrad gegen eine hölzerne Mülltonne auf einem Rastplatz und ich weiß nicht, was ich alles aus Wut getan habe. Ich weiß nur noch, dass die Mission in mir – alle 10 km ein Foto der bereisten Strecke zu machen – massiv bröckelte und plötzlich vieles, woran man sich festgebissen hatte, unwichtig wurde. Ich bezeichnete das als „plötzlichen Lustverlust“. Einen Zustand, in dem sich traumblasenhaft allmögliche Lebensalternativen aufbauen und man sich sofort eines der Traumblasenleben herbei wünscht, anstatt das, was man gerade lebt (im Regen durch die Einöde Richtung Nordkap zu radeln), weiterzuführen.