Bloggerlesung in Hamburg mit Candy Bukowski, Andreas Glumm und Sabine Wirsching

Vom Elbstrandidyll in die Elbmetropole. Bloß wie, wenn man als Landei das Großstadtgemetzel scheut? Park & Ride. Wo ist das nächste? In Nettlenburg auf der anderen Elbeseite werden wir fündig. Kaufen Tagesticket für bis zu fünf Personen für nur 10.80 €. P&R kostet zwei. Halbe Stunde später spuckt uns die S21 am Hauptbahnhof aus. Was für ein Getümmel. Männer, Frauen, Bettler, Punker, Reisende, Touris. Zwei Landeremiten, SoSo et moi, schieben sich durch den Mahlstrom aus Neugierigen, Verzweifelten, Hoffenden, Gescheiterten, Vorankommenwollenden. SoSo peilt mit dem GPS das Schulterblatt an, den Ort, an dem die Bloggerlesung ist. Dreieinhalb Kilometer in die Richtung, zeigt sie. Vorbei am Ohnsorgtheater laufen wir Richtung Sonne, schnieke Gegend, Schanzenbäckerei, Hüngerchen, ein schofeliger Bäcker verkauft uns genervt zwei belegte Brötchen. Weiter Richtung skandinavisch schräg stehende Sonne. Die – ich glaube, es ist die Innenalster, jedenfalls die kleinere der beiden Alstern, die mit dem Springbrunnen, ist umringt von Menschenströmen. Auf den engen Wegen direkt am Ufer stelle ich mir vor, dass so ungefähr der Golfstrom funktioniert oder der zentralpazifische Wirbel, wo sich ein tausende Kilometer großer Strudel gebildet hat, in dem sich der Plastikmüll unserer Industriegesellschaft sammelt. Wie schwer abbaubare Polyethylenteilchen treiben wir zu zehntausenden um den Alsterteich. Gaukler. Lebende Statuen, Menschentrauben auf dem freien Feld Richtung Rathaus. In Betttücher gehüllt, fast wie eine Leiche, deren Kopf man vergessen hat zu bedecken, liegt ein junger Kambodschaner. Becher daneben und ein paar DVDs. Wenn jeder, der sich an ihm vorbei drückt, einen Euro geben würde, dann wäre er ein reicher Mann. Ich unterdrücke die syssiphos-esken Gedanken daran, wie eine Gesellschaft machbar wäre, in der es kein Elend mehr gäbe. Obschon mich die Idee reizt, dass jeder, der mehr hat, als der andere, dem anderen so lange gibt, bis dieser genausoviel hat wie er selber. Kunstbübchen, Visionär. Ha. Ein Lude im Ferrari röhrt mühsam rückwärts in eine Parklücke, wackelt obeinig schulterwankend wie ein Westernheld zu einem Mietshaus in bester Lage. SoSo fotografiert Mülleimer. Er beobachtet sie. Da ist etwas, das nicht in seine Welt passt. Immer wieder zückt SoSo das GPS und peilt. Da lang. Zwei Kilometer. Das geht nicht. Da steht ein Haus. Wir blicken die Straße rauf und runter. Keine Möglichkeit, drumherum zu laufen. Der Springerbau. Polizeiautos davor. Die Schiebetür geht auf. Man kann die Straße auf der anderen Seite sehen. Fast menschenleer ist das Foyer. Café, paar Tische, die Toilette kommt uns gerade recht, zwei Pförtner. Irgendwie schaffen wir die Passage durch etliche Schleusen und Drehtüren auf die andere Seite. Zu den Schlagzeilen von morgen, hängt ein riesiges rotes Plakat vor der Tür. Einen knappen Kilometer später Richtung Sonne hat sich die schnieke, kalte Stadt in ein buntes, vor Leben strotzendes Viertel gewandelt. Das Schanzenviertel schon? Graffities. Straßencafés, schwarzantifaschistische, aus Brettern zusammengeschusterte Biergärten, Familienausflüge, Kinder auf Papaschultern und gleich daneben Pennerkolonien überall dort, wo ein bisschen Sicht- und Regenschutz ist. Der Vorbau eines wohl ehemaligen Kinos ist mit dreckigen Matratzen und Decken verbarrikadiert. Wagenburg des Scheiterns. Beklommen laufen wir vorbei. Paar Meter weiter zwei müde Kerle, unrasiert, wie Embryos liegen sie mitten auf dem Gehweg. Ich lasse eine Münze fallen. Der eine, ein rothaariger Typ kaum älter, hebt den Kopf und ruf Dankeee. Diese freudigen Augen. Es zerreißt mir das Herz. Ich müsste Millionär sein und eine Woche lang, die Stadt durchwandern und so lange Geld in Becher werfen, bis ich wieder der bin, der ich war.
Pünktlich erreichen wir das Schulterblatt. Im zweiten Stock ist eine kleine Theaterbühne. Unten Kneipe, Café und außenrum eine Art Biergarten. Mit meiner Vermutung (siehe Artikel zuvor), dass sich hier die Haute Volée der deutschen Produzentenliteraturblogszene trifft, hatte ich womöglich gar nicht so unrecht. Fünfzig bis siebzig Gäste. Einer geht durchs Publikum und fragt alle, ob sie bloggen, verteilt Etiketten zum Namendraufschreiben, die man sich ankleben kann. Mehr als die Hälfte outet sich.
Und die Lesung? Perfekt. Anderthalb Stunden lesen Organisatorin Candy Bukowski, Andreas Glumm und Sabine Wirsching. Hochwertige, bis dato ungedruckte Literatur meets gemütliches Plaudern aus dem Blogkästchen.

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6 Antworten auf „Bloggerlesung in Hamburg mit Candy Bukowski, Andreas Glumm und Sabine Wirsching“

    1. Huch, dann ist Berlin weniger voll. Bin gespannt. Toll war Hamburg. Auf das Buchprojekt bin ich gespannt. Môcht ich aber lieber auf einem echten PC anschauen, statt auf Smartphone.

  1. Ich kann mich Soso nur anschließen.
    Sehr gelungen, Dein Text, mit seinen harten Schnitten und Beobachtungen, den gedanklichen Einsprengseln des „Kunstbübchens“ und der Beurteilung der Lese-Veranstaltung am Ende.
    Auch ich habe die paar Stunden sehr genossen, vor allem auch die Gespräche drumherum.
    Ich bin ja kein Freund von Lesungen, aber den GLUMM wollte ich mir nicht entgehen lassen. Obgleich: So richtig wohlgefühlt hat er sich m. E. auf der Bühne nicht. Seine Texte aber strahlten die gewohnte Intensität in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht auf die andächtig Lauschenden aus. Die musikalische Einlage war grandios, und auch die Texte von Candy waren sehr kunsvoll und handwerklich gekonnt. Sabine hat mir als Person sehr gut gefallen, ihre Frische und Direktheit, ihr Thema hatte für mich – im fortgeschrittenen Alter, in dem ich mich befinde – nicht mehr die Dringlichkeit und Aktualität, die es womöglich für Twens in der Hauptstadt der „Unverbindlkichkeit“ hat, aber sie trifft sicherlich einen „Nerv“ der Zeit.
    Ein rundum gelungener Abend. Schön auch, Dich und Soso leibhaftig, gwissermaßen „enttarnt“, kennenlernen zu können.

    Gute Weitereise nach Berlin, und grüßt mir den Florian, wenn Ihr ihn treffen solltet.
    Uwe

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