Ein Rucksack namens Frankenstein

Vor der Passhöhe zum Gotthard im „Basislager“ Hospental. Zimmer vier, Hotel Rössli. Ich nähe meinen Rucksack, der durch den Tierbiss und den Sturz in die Reusschlucht ziemlich mitgenommen ist. In Andermatt in einem Sportgeschäft erzählte man uns, dass es sogar Wölfe gibt in der Gegend und dass wir womöglich von Wölfen heimgesucht wurden. Durch die berühmteste Schlucht der Schweiz, so ein Hinweis auf einer Tafel, die Schöllenenschlucht, kraxeln wir ins Hochtal um Andermatt, eine weite, karge Ebene, Andermatt aufstrebend mondän. Pause im Café Baumann direkt an der Verkehrskreuzung. Hunderte Touristenautos, Motorräder, Cabrios, giftgrüne röhrende Checkerkarren mit pomadierten Kokstypen darin, orientierungslose Familien aus Holland, Schweden, Deutschland, ein halber Harleyclub mit hundertfünfzig Kilo schweren bärtigen Rockern, das Eiserne Kreuz auf die Kutte gestickt. Außerhalb Richtung Gotthard ein Campingplatz, wie man ihn sonst nur in Island findet, kahle Wiese, und im Anschluss ein Golfplatz bis hinüber nach Hospental.
Hospental ist ein 250 Seelen-Dorf direkt unter dem Antieg zum Gotthardpass. Große Häuser, Hotels, Gaststätten zeugen von einer blühenden Vergangenheit, in der es noch keinen Tunnel gab. Nun wirkt das Dorf ausgestorben, eine Umgehungsstraße wurde gebaut, vieles ist heruntergekommen, ein leerstehendes Haus gegenüber dem Bahnhof lässt die Herzen von Lost Places Suchenden höher schlagen. Hier ein Bild davon im SoSo-Blog.
Auf der Dorfstraße begegnen wir einem zugewanderten Deutschen, der uns diverse Unterkünfte empfiehlt, allesamt relativ günstig, weil heruntergekommen. Das Bild vom Wandel der Welt im Laufe der Zeit verfestigt sich: die Gletscher ziehen sich zurück nach oben, die Menschen nach unten. Wenn 2018 der neue Basistunnel fertig ist, werden auch Göschenen und Amsteg und Wassen abgehängt vom Rest der Welt. Es ist das Wesen der Pässe, insbesondere des Gotthards, dass alle nur hinüber, hindurch, vorbei wollen und dass niemand verweilen will. Nein, es ist das Wesen der Menschen, dass sie so schnell wie möglich vom Start zum Ziel wollen und dass das Dazwischen, das eigentliche Stammzellengewebe der Zivilisation nicht interessiert. Ich frage mich, ob wir nicht auch zu diesem Schlag Menschen gehören.
Bild: nicht schön, aber hält hoffentlich. Der Irgendlinkrucksack, zerfetzt vom Hound of Göschenen, zusammengeflickt.

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7 Antworten auf „Ein Rucksack namens Frankenstein“

      1. Hmm, ich kann in der Mobildarstellung nichts finden, verzeichne auch diverse Fehlermeldungen bei der Nutzung der App. Aber das System läuft noch stabil.

  1. na egal, ich kriegs jetzt auch nicht mehr zusammen, lese lieber das Neue von euch und vielleicht fällt mir dann ja doch noch wieder was von gestern ein …
    und ewig grüsst euch das Murmeltier ;)

  2. Deine Näherei erinnert mich an einen Grundsatz der DDR-Industrie: Repariere es provisorisch, dann hält es ewig. Zumindest funktionierte es so, wenn handwerklich begabte Menschen sich einer Sache annahmen.

    Die Sätze über das „sterbende“ Dorf erinnern mich gerade jetzt an eine Sendung auf (irgendwas öffentlich-rechtliches): Dort war diese Woche der Film über Leopoldsreut zu sehen …

    Allerdings widerspreche ich Dir in einem: Es ist nicht nicht „das Wesen der Menschen“, die nur hinüberwollen; es ist der Zeitgeist, der ein Verweilen für unproduktiv hält.

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