Orientierung für Straßburg

Es ist bestimmt ein Vierteljahrhundert her, dass ich einen Lobgesang auf Straßburgs Radwegenetz ausgebracht habe. Wie einfach die Stadt doch zu durchqueren ist. Überall schöne grüne Radwegeschilder, Radlerampeln und Übergänge. Narrensicher. Du kannst dich ü-ber-haupt nicht verirren in der Stadt! Auch letztes Jahr glaubte ich noch an das Märchen, weil die vierzig Grad Hitze mir das Hirn zerkocht hatte und ich somit unmöglich auch nur Irgendwas hätte finden können. Der Traum vom leicht per Rad durchquerbaren Straßburg platzte erst gestern, als ich die Stadt von Westen am Rhein-Marne-Kanal erreichte und auch nach Westen an dem Bach, der mit A beginnt wieder verließ. Obwohl mein Kurs Süden war. Dabei ist die Stadt doch so einfach. Sie ist nämlich eine Insel zwischen Kanälen. Das Venedig des Elsass, l’Île d’Europe. Eigentlich muss man nur den Schildern Richtung Centre Ville folgen bis zur Kathedrale, dann nach Wasser suchen und so lange dem Wasser folgen, bis man auf das markante Bauwerk des Festungsbauers Vauban trifft, die Ill-Barriere, ein hundert Meter langer Festungsklotz, unter dem das Flüsschen Ill sich hindurch zwängt. Kanufahrer erleben dies als Abenteuer, konnte ich gestern beobachten. Der nördliche Zweig des Rhein-Rhône-Kanals folgt der Tiefebene zwischen Rhein und Ill. Am alten Kanal, der bis etwa Booftzheim schiffbar ist, wurden die Treidelpfade in Radwege verwandelt. Bestens beschildert. Eine andere Welt. Einsam. Dörfer liegen querab. Keinerlei Orientierung, würde nicht ab und zu ein Schild auf die Dörfer jenseits hinweisen und hätte man nicht an den Brücken, über die die Departementsstraßen queren, die nüchternen Straßenbezeichnungen angebracht: D Soundsoviel und D Soundsoviel und so weiter. Die alten Schleusenhäuschen sind von Besançon beginnend durchnummeriert. Ich bewege mich zwischen sechzig und siebzig. Alle paar Kilometer folgt der Radweg der Kanalsteigung und ich muss ein paar Höhenmeter klettern. Eine schwarze, ungeimliche Schlange ist dieser Weg. Ab Booftzheim verkommt der Kanal zum Bewässerungssystem. Dieselgetriebene Pumpen stehen auf den Feldern und pumpen unablässig Wasser in die – zumeist – Maisfelder. Der schmale Streifen Kanal mit seinem türkisfarbenen klaren Wasser wird ohne den Schiffsbetrieb zum kleinen Biotop. Wenn der Pumpenlärm nicht wären, könnte man meinen, man wäre im Urwald. Bei Artzenheim endet der Radweg nach Süden wegen des Stichkanals nach Colmar. Für ein paar Kilometer muss man auf die Landstraße, in die Zivilisation. Bei einem raiffeisenähnlichen Markt erbettele ich Wasser. Kurz hinter Artzenheim spricht mich eine Frau an, bietet mir ihr Grundstück zum Zelten an. Ihr Bruder sei Jakobspilger, derzeit seit 750 km zu Fuß unterwegs, schon in Limoges. Daher wisse sie, wie wichtig es ist, einen schönen Zeltplatz zu finden. So werde ich Major Domus für eine Nacht auf einem Gartengrundstück in Artzenheim mit vier Hühnern, zwei Küken und einem Erdbrunnen.
Ach und Straßburg, ehe ichs vergesse: der ultimative Orientierungstipp, wenn man über den Rhein-Marne-Kanal reinkommt und zur Ill rauswill: Verlasse nie das Wasser. Denk nicht an Fred Vargas Roman Nacht des Zorns (oder so ähnlich) und fahre nicht Richtung Schiltigheim. Meide alle Hinweise auf Orte, die mit „La“ anfangen und mit „au“ enden (z. B. La Wantzenau). Folge nicht dem Bach, der mit A beginnt. Suche die Vauban-Schleuse.

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