Homo Discolonius – das zersiedelte Ich im Internet

Der zersiedelte Mensch, das sich selbst auflösende Individuum, die Fragmentierung des digitalen Ichs auf verschiedenen Plattformen … wenn die Lateiner dafür ein Wort gewusst hätten, hätten sie vielleicht den Begriff Homo Discolonius, Unterart Homo Discolonius Oppidiensis geprägt.

Drei Instanzen eines gesichts überblendet in einer quadratischen Collage
Ich hoch Drei Homo Discolonius

Soziale Medien sprießen wie Pilze aus dem Boden und wer etwas auf sich hält oder auch einfach nur mithalten will in dem kommunikativen Massenwahn, muss sich permanent auf neue, heilversprechende Plattformen einlassen. Facebook hier, Twitter dort, WhatsApp jenerorts, Tumblr, WordPress, (wer kennt noch wer-kennt-wen?). Nicht genug: zu den reinen Kommunikationsplattformen, diesen Mittelaltermärkten der Moderne, kommen auch noch jede Menge Fun- und Hobby-Communities, Geocaching, diverse Spieleportale, Sport hier, Nachrichten dort. Zu guter Letzt die Selbstvermarktungsplattformen für Ebooks, T-Shirts, Kunst, Fotos, Unmengen geistigen Eigentums, die zu Fuße des Ecommerz-Gletschers sich zu einer Endmoräne aufwerfen. Stehen wir vor einer Art Babylonischer Identitätenverwirrung?

Die Zeit vor der Zersiedelung des Ichs, kurz vor der Geburt des Homo Discolonius

Als junger Blogger hatte ich einmal die Illusion, einfach nur Ich bleiben zu dürfen im Netz. Ein Mann ein Blog! Und nur eine einzige Internetadresse! Das war um die Zeit, als Facebook gegründet wurde und noch niemand wusste, was das ist. Ich postete täglich Texte und Bilder auf einer Blogplattform namens myblog.de, die nach einigen Crashes von 20six.de geschluckt wurde und das junge WordPress war gerade am Aufkeimen, weshalb es nahe lag, auf einen eigenen Server zu ziehen, und WordPress auszuprobieren (welches auch heute noch auf dem Irgendlink-Server zum Einsatz kommt). Ach hätte ich nur geahnt, dass das der Beginn meiner Zer-Ichung war. Anfänglich gab es tatsächlich nur eine einzige Seite, eine einzige Internetidentität, ein einziges, gutes, gediegenes Ich, hinter dem noch echtes Fleisch und Blut stand. Was ist daraus geworden? Mittlerweile betreibe ich ca. zehn verschiedene Webseiten, habe das Ich in mindestens drei unterschiedliche, mehr oder weniger reale Identitäten gesplittet, wobei Monsieur Irgendlink, moi-même, noch verdammt nah dran ist an dem guten alten Blogger von einst.

Um voran zu kommen im Netz und mithalten zu können, ja, um überhaupt wahr genommen zu werden – so suggeriert man uns täglich – müssen wir bei diesem oder jenem sozialen Medium unbedingt vertreten sein. Die Blogsoftware macht es glücklicher Weise einfach, mittels Share Buttons (Teilen-Schaltflächen), das eigene Blog, bzw. die Einzelartikel zu verknüpfen, so dass eine Verschneidung der Sphären oder besser gesagt, eine Verknüpfung, nicht das Problem darstellt. Schwieriger wird es körperintern, also auf die Person aus Fleisch und Blut bezogen, die man einmal war, das ganze zu verstehen. Der Homo Fleischikus Blutiensis nämlich kennt nur sich selbst, er greift mit der linken Hand rüber zur rechten und spürt, ah, du bist noch da. Sein Hirn jedoch erlaubt die Zersiedelung. Das macht ein Rollenspiel möglich und die Technik unterstützt ihn dabei.

Aus Eins mach‘ Viele – inflationäre Ich-Vermehrung bringt den Homo Discolonius hervor

Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, heutztage, in die Unzahl von Möglichkeiten hineinzuwachsen? Wie ist das Leben einer Person, die nie gelernt hat, Ich zu sein, weil sie sofort viele Ichs sein konnte. Weil sie dem Kampfnamen Dragor bei WOW antritt, auf Twitter sich @bumsdiddelda nennt, in Facebook den Namen verwendet, der in der Geburtsurkunde steht, zum Beispiel Kevin_Müller148, ein Xingprofil hier, ein Katzenblog betreibt unter wundervollegruenekatzen.wordpress.com … und sich überall regelmäßig einloggen muss, überall seine Rolle finden muss, Kreise schließen, Freundschaften? Obendrein den massiven Forderungen, die die jeweiligen Systeme an ihn (oder besser an die vielen Ichs) stellen, gerecht zu werden, wie fühlt sich das an? Denn eins ist klar, wer sich einer Community anschließt, der muss ihr auch dienen. Er muss sich den Manipulationen unterwerfen, die die digitalen Plärrplattformen im Netz ihm angedeihen lassen, muss die Werbung verinnerlichen, die man ihm ins Hirn reibt.  Eine Zerreißprobe.

Ich Irgendlink moi-même beendet nun diesen Artikel. Er muss sich als Heiko Moorlander bei Facebook einloggen, vorher noch schnell nen Twitterspruch als @irgendlink, mal schauen, was die Ebook-Umsätze so machen, unbedingt ein Bild posten auf einer Polanoid-Retro-Community … so verbleibe ich ich ich ich denn mit einem dreifach schallenden „wir mailen“.

 

4 Antworten auf „Homo Discolonius – das zersiedelte Ich im Internet“

  1. :) gut geschrieben Monsieur Irgendlink, der mir dann doch noch am vertrautesten ist, aber nun, wir sind viele und auf jeder Plattform ein anderer, eine andere? Nein, da spiele ich nicht mit … Leben in Echtzeit geht unbedingt vor! Und ich habe schon genug zu tun mich selbst zu halten …
    mit augenzwinkernden Grüßen
    Ulli

  2. wer bin ich und wenn ja wie viele? – hat schon doris dörrie dereinst sinniert.
    und man denke an pessoa: „Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermass an Selbsten. Deshalb ist, wer die Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen.“ (aus: Fernando Pessoa, “Livro do Desassossego”, Aufzeichnung vom 20.12.1932)

    offenbar gibt es nichts neues unter der sonne – auch nicht mit internet. und warum solls dir auch besser gehen? :-)

  3. Als eine, die ohne Computer groß wurde und in früher Kindheit gar ohne Fernseher und Telefon sehe ich es etwas anders: Ich ist nämlich auch das, was andere in uns sehen. Mit dem Internet betraten Menschen/gruppen mein Leben und mit ihnen Facetten, die sie in mir sahen und von denen ich bis dahin zum Teil gar nichts wusste. Für mich war und ist es eine Bereicherung. Man muss auch keine 3 Blogs haben und soundsoviele Profile in sozialen Medien. Man kann es aber. Wenn man will. Vielleicht sind das Menschen mit besonders vielen Wesensarten, die gesehen werden wollen, und ausreichend Zeit. :-)

  4. Weiß nicht, ob das noch wer liest; egal.

    Fände viel interessanter, wie sich das entwickelt. Wir machen ja noch die allerersten Erfahrungen mit einem neuen Medium, probieren aus, erfinden ständig neue Software, und morgen ist das Nächste dran. Wüsste zu, zu gerne, wie sich das in 30 Jahren anfühlt. In 50, in 70…

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