Manierismus komma sieben

Die Löcher in der Wand, wo einst das alte Regal befestigt war sind schon seit Jahren ein Blickfang, wie übrigens auch die gut sechzig Zentimeter lange, gelb-wässrige Giraffe, die sich an der Wand gebildet hat unter dem Loch im Dach der Künstlerbude. Spinnweben, Staub, Sägemehl, alles, was das Holzheizen so mit sich bringt. Die Künstlerbude ist ein Leckerbissen für denjenigen, der die Ressonanz des Urknalls nachschwingen hören mag. Es wäre schön, die Löcher mit einer Tube Acrylpaste zu stopfen, aber dazu müsste man erst den Küchenschrank wegrücken und dazu müsste man erst das Geschirr ausräumen und dazu müsste man zuerst einen Umzugskarton finden, weshalb man zuerst im Atelier das Gerümpel wegräumen müsste, das vor der mutmaßlichen Umzugskartonslagerecke steht. Kurzum: die Löcher in der Wand, wo einst das Regal hing zu stopfen, ist gar nicht so einfach. Zumal es sowieso gut wäre, den Küchenschrank, wenn man ihn schon bewegt, in den Nebenraum zu stellen, der aber, nunja, seit drei Jahren im Rohbau, noch nicht einmal Wände hat, um darin Löcher zu machen, die man dann stopfen könnte.

Mit zunehmendem Lebensalter, werden die Dinge nur noch im Kopf wahr. Dann sitzt man vor einer löchrigen Wand und malt sie sich gedanklich weiß, repariert das Dach in einem trockenen Frühlingsmonat, schreibt an imaginären langen Winterabenden vor dem Kamin auf einer uralten Schreibmaschine den großen Roman und schustert ein Kunstkonzept nach dem anderen, das aber nie für Fremde sichtbar wird, weil es nun mal unmöglich ist, in die Köpfe der Menschen zu schauen.

Vorgestern ist es so weit. Eine Umzugskiste, wohl durch ein Tier von einem Stapel geworfen, liegt vor der Ateliertür. Schnell ist der Küchenschrank leer, sein Inhalt in drei Teile geteilt: Müll, Recyclebares und das, was nach der Maßnahme wieder eingeräumt wird. Monsieur Irgendlink kommt irgendwie in den Besitz einer Wasserwaage. Eines Hammers, einer Akkubohrmaschine, diverser Wühlkisten voller Werkzeug. Baustoffe liegen schon seit Menschengedenken auf dem staubigen Atelierboden. Gips. Dämmstoffe. Latten. Das ist das Material, aus dem die Küchenwandlochstopfträume sind.

Macht das Renovieren Spaß, fragt SoSo in einer SMS gestern früh.

Nein! antworte ich auf der verzweifelten Suche nach einem Kreuzschlitzbit, mit dem ich eine uralte Schraube aus der Wand des Nebenraums drehen muss, ehe ich den Schrank davorstellen kann. Überhaupt ist die Werkzeugsuche auf dem einsamen Gehöft stets ein Hindernis, eine Arbeit anzupacken. Die Erfinder einfacher Computerspiele haben nämlich ganze Arbeit geleistet: Um die Tür zu öffnen, musst du in Level drei den Schlüssel mitnehmen und in Level vier den Wagenheber, damit du den Panzerschrank, der davor steht, wegdrücken kannst. Nur so kannst du in Level fünf kommen, die weite Welt jenseits des Lochs in der Wand … es gibt viele Werkzeuge auf dem einsamen Gehöft, meist sogar doppelt und dreifach, aber sie liegen gleichmäßig verteilt – nennt man das Entropie oder Enthalpie, egal – in vier fünf sechs Räumen, Kellern, Garagen, auf einem der etwa zehn Schubkarren, im Traktor, irgendwo, nur nicht da, wo man sie sucht. Metermaße, die Essenz allen Bauens. Wer baut, muss messen und ich kann partout keinen Zollstock finden. Einzig mein Ausstellungseröffnungszollstock liegt auf dem Küchentisch. Den nehme ich zu Vernissagen mit, weil darauf alles gedruckt ist, was man für den Smalltalk auf Sektschlürfveranstaltungen braucht. Eigentlich ist das ein ganz normaler Meter zum klappen, exakt zwei Meter lang, nur, dass auf der einen Seite Bilder gedruckt sind, und auf der anderen die Kunstepochen, beginnend mit der Späten Antike über das Byzantinische, Keltische, sogar chinesische Kunstepochen und Mayakunst sind berücksichtigt bis zur Moderne. Die Bilder zeigen berühmte Kunstwerke aus den jeweiligen Epochen und man kann auf Vernissagen prima mit seinem Kunstwissen angeben: Äh, wann war nochmal die frühe Renaissance? – Ha, das ist weiß doch jedes Kind! Hauptvertreter Giotto, das Leiden des Christi, klingelts, na? 1305, Padua, Italien. Ein Meisterwerk. Gerade mal vierzig Zentimeter bis zum Neoklassizismus. Ha. Und jetzt kommst Du, Kunstgenießer!

Der Meter ist denkbar ungeeignet, um damit zu messen. Die Zahlen sind zu klein gedruckt und es gibt  nicht die üblichen Hervorhebungen alle zehn und zwanzig Zentimeter. Ein einheitlicher Zahlenbrei, so dass ich mich beim Beschneiden von Rigipsplatten hin und wieder vermesse. Es waren die sechs Dynastien und nicht die Gupta-Periode, Mist. Auch die nur einseitige Zahlenskala bereitet Probleme. Normale Meter kann man umdrehen und erhält gegenläufig eine weitere Skala … nur wirkliche Kunstexperten, so wie ich, wissen diesen Kunstepochenmeter zu bedienen. Eine Serie von Dachlatten schneide ich auf Renaissance-komma-sieben Zentimeter. Die Ecke im neuen Raum wird auf einer Breite von Ein-Spätegotik-Peter-Paul-Rubens-komma drei mit Teppich belegt und so weiter …

Heute ist Strichen angesagt, aber ich muss zuerst die Pinsel finden.

Maschinelle Poesie

Bei Einbruch der Nacht, können wir auf der Straße begegnen, eine Familie von Wildschweinen zum Schwimmen gebunden.

Während des Tages, auf den Höhen von verängstigten Hirsch, enfuieront auf dem Weg sein.

An der Biegung eines Hügels, können Sie in der Ferne die Berge einstürzen zu den Ebenen, Städte und Dörfer, und das Meer, in den Fonds, 55kms auf der Straße.

Lochfraß

Dinge verschwinden. Zuerst die Fahrradhandschuhe. Glücklicherweise kann Monsieur Irgendlink sie durch wollene Handschuhe mit Norwegermuster ersetzen. Das Künstlerhirn grübelt, dass irgendwo in der Künstlerbude noch weitere Handschuhe liegen sollten. Derweil verschwindet ein Huhn. Man hat es vor vierzehn Tagen gesehen aus dem Pferch ausbrechen, sich seiner Freiheit erfreuend, im Wald verschwindend, nie wieder auftauchend. Noch nicht einmal Federn fand man. Das Huhn mutiert zu Schrödingers Huhn. Gleichzeitig lebt es und ist tot. Ein quantenphysisches Problem. Keiner weiß, was geschehen ist, so lange man keine Federn findet. In einer Schublade in der Kommode in der Künstlerbude taucht ein Handschuh auf, kein Fahrradhandschuh, ein uraltes Ding aus Islandwolle. Einer allein. Wo ist der andere? Derweil betätigt sich das Künstlerhirn mit PHP-Skripten und Homepages und registriert den Zerfall des Körpers, in dem es ruht: Tippfehler, bei denen mehr als drei Buchstaben in einem Wtro verdreht sind. Das gab es früher nicht. Der Name von dem Dingsda, den man einst besser kannte, will nicht sofort parat sein. Da stimmt doch was nicht. Lochfraß im Hirn. Die Handschuhe bleiben trotz intensiver Suche verschwunden. Alle zweieinhalb Paare, an die Monsieurs Hirn sich erinnert. Wieviele Paar Handschuhe befinden sich in Monsieurs Besitz, an die er sich nicht mehr erinnert?

Alljährlich muss die Wasserleitung zur Künstlerbude abgestellt werden, da sie nicht frostfrei verlegt wurde. Es gibt fünf Hähne an der hundert Meter langen Leitung, die geöffnet werden müssen. Im Atelier steht noch die große Mülltonne, die im letzten Winter als Auffang diente. Als Monsieur den Deckel hebt, sitzt da das verschwundene Huhn, fast zwei Wochen verschollen, hatte es sich durch den Klappdeckel selbst gefangen – da es lebt, erhält es den Namen Nehberg. Tse. Zwei Wochen in einer Mülltonne. Zwei Eier liegen darin, Kot und Urin, der sich mit dem wenigen Wasser gemischt hat, das noch vom Vorwinter in der Tonne stand.

Das Künstlerhirn verbringt mittlerweile viel Zeit damit, zu grübeln, wo die Fahrradhandschuhe sind: nicht in der Künstlerbude, denn die wurde bis zum letzten Winkel durchsucht. Auch nicht im Badezimmer. Das Atelier macht einen aufgeräumten Eindruck.  Die Bude zweimal links gemacht, bleiben die Handschuhe verschwunden.

Man darf dieses Hirn nicht zu sehr grübeln lassen. Wie ein Pelztier, das sich zum Überwintern anschickt, sitzt es verängstigt in seiner Höhle und beißt sich an solchen Belanglosigkeiten, wie Handschuhen fest oder Geldsorgen und es befeuert sich insgeheim mit defaitionistischem Brennmaterial, das zur Selbstaufgabe jeglicher Weiterbildung führt: wozu noch PHP-Scripte studieren, wenn der Lochfraß um sich greift und man die Dinge schneller vergisst, seine Handschuhe nicht mehr findet, den Namen von dem Dingsda nicht erinnert und die Bchustaben  vertauscht? Die Dinge schneller vergisst, als man sie sich einprägen kann. Das ist doch wie mit einem löchrigen Eimer Wasser zu schöpfen, du Kelly Bundy der feinen Künste, du. Du musst für jedes, was du dir merkst, etwas anderes aus dem Hirn löschen …

Der Mensch neigt dazu, Dinge in Einheiten zusammenzufassen. Ein Schrank voller Gegenstände ist ein Schrank, nicht etwa eine komprimierte Darstellung von Gegenständen. Ein Aktenordner voller Seiten ist nur ein Aktenordner und nicht die Ansammlung hunderter schriftlicher Dokumente.

Somit ist die Kiste voller Fahrradzubehör nur eine Kiste … die zudem unter einer anderen Kiste gelagert ist, in der sich Kunstwerke befinden.

Sowohl Huhn, als auch zwei von zweieinhalb Paar Fahrradhandschuhen sind wohlbehalten wieder aufgetaucht. Nach vierzehntägiger Grübelei.

Ein Gefühl von Lochfraß im Hirn bleibt, unangenehm reibend … früher waren Dinge voller anderer Dinge noch Dinge voller anderer Dinge. Aber mit zunehmendem Alter und dem Abbau von Hirnzellen werden die Dinge immer mehr zu Dingen, zu Allgemeinplätzen voller Geheimnisse … und wenn die Geheimnisse erst verschwunden sind, was bleibt dann noch?

Pixelschlachterei in Anti-Sunderland

Es geht drunter und drüber. Monsieur Irgendlink ist multipel mit diversen Lern- und Gestaltungsarbeiten beschäftigt und erkennt einmal mehr, wie unendlich die unendlichen Weiten des Netzes sind. Der PC dudelt gut sechzehn Stunden am Tag. Eigentlich ist es, wie mit dem Fahrrad um die Nordsee radeln: wenn man sich erst einmal an die Strapazen gewöhnt hat, sich ein Alltag eingependelt hat, läuft es wie von selbst. Wie auf der Straße, so auch im Datennetz. Die Hieroglyphizität diverser Auszeichnungssprachen ist nicht mehr so erschreckend. Ich kapiere. Langsam. Ist das digitale Landnahme? Ich lerne den Weg, indem ich ihn mit den Fingern auf der Tastatur erforsche, Dateien öffne, grübele, hier ein Bruchstück Code, das plötzlich verständlich wird, dort ein kleiner Hack, mit dem man dies und das erzielen kann – ob die australischen Ureinwohner einst in ähnlicher Manier ihr Land ersungen haben?

Die universelle Art, etwas zu lernen, zu erforschen, Unbekanntes sich bekannt zu machen, drängt sich montags auf, nachdem ich sonntags fast verzweifelt bin. Du musst dir den Weg in kleine Abschnitte zerlegen, nur so kannst du ihn gehen. Und: der Weg ist immer länger, als du vermutest. Eins werden mit dem Weg. Ziel Ziel sein lassen, Weg Weg. Fetzenhaft manifestiert sich eine Winterphantasie: der Künstler in friedlicher Einheit mit seinem PC, permanent schlauer werdend … gepaart mit den dekonstruktiven Kräften, den ganzen Bendel hinzuschmeisen … wieso drängt sich mir just heute Sunderland auf? Dort, wo das Wetter so garstig war und ich einen zweitägigen Sturm in einem bezahlbaren B&B verbrachte, bis auf die Knochen nass wurde, weil ich bei Regen durch die Fußballstadt flanierte, ein Sixpack Newcastle Brown Ale unter dem Arm. Heute ist Antisunderland. Ich bin, statt körperlich kurbelnd um die Nordsee, geistig drehend im digitalen Universum unterwegs. Ein Antisturm mit Sonne, herbstlich bunter Welt, eiskalt, zwingt das Gemüt zu einer Pause – nach wievielen Tagen „on Tour“ im Pixeluniversum? Wann hatte ich den letzten ganzen freien Tag, an dem ich nichts dachte, nichts tat, nichts wollte? Ist heute Zeit, zu ruhen? Verflixt, schon läuft der PC und ich hacke diese Zeilen. Ich sollte etwas essen, raus, Paus‘, gucken.