Immer wieder Niewieder – nie wieder Niewieder

Irgendwo in der Nähe des Pass Gschütt, abzweigend aus dem Salzachtal, südöstlich von Kuchl führt ein nie enden wollender Anstieg vom Kaliber etlicher Zweibrücker Kreuzberge ins liebliche Weitenau. Die eng gezeichneten Höhenlinien in der Opencycle Map sind Garant für zweistellige Prozente beim Anstieg. Mit Schrittgeschwindigkeit kurbelnd. Sonne sticht. Zum Glück ist kaum Verkehr. Ich fühle mich zurück versetzt an die Porte de Envalira, 2400 Meter hoch, auf die es von Ax-les-Thermes in den Pyrenäen hinaufführt in den Kleinstaat Andorra. Es liegen hier knapp sechshundert Höhenmeter vor mir, erzählte mir am Ortsausgang von Kuchl eine Gruppe Mountainbiker. Und wie sie die Augen verdrehten, als ich sagte, das macht mir nix aus. Schnell hatte mein Hirn an Hand der Faustformel: vierhundert Höhenmeter schaffst du vollbepackt pro Stunde, egal wie steil, mich in anderthalb Stunden auf dem Pass stehen sehen. Schwitzend in einer serpentinösen Kurve, wird mir bang, dass das nicht mehr so hinhaut wie noch 2010, als ich zuletzt die Pyrenäen überquerte. Oder ist die Strecke am Gschütt so steil, dass es kein normales Radeln mehr geben kann?

Immer wieder mache ich Pausen, schnaufe, kurbele ein paar Höhenmeter, meist von Schatten zu Schatten. Das vielleicht fünfundzwanzig Kilo schwere Radel zerrt an mir wie Beton an den Füßen eines Mafiaopfers. Vielleicht ist es die Hitze? Vielleicht bin ich einfach zu alt für sowas? Die Port d’Envalira würde ich in der derzeitigen Verfassung nicht schaffen, bin ich überzeugt. Die Passstrecke führt nämlich nicht über eine beschauliche, kaum befahrene Straße, sondern über einen französische Nationalstraße, die ab zehn Uhr morgens an Verkehr stark zulegt. Meist Tanktouristen, die eine der etwa fünf Tankstellen oben auf dem Pass ansteuern und sich nebenbei mit Uhren und Schmuck und Tand versorgen, der in den sprichwörtlich in den Fels geschlagenen Konsumhöhlen Andorras feil geboten wird. Nie wieder Radfahren, skandiere ich am letzten Tourtag, letzten Donnerstag. Schon fällt die Roadmap, mein großer Lebensreiseplan, den ich erst kürzlich aufgestellt habe, und in dem alle Tourideen für die nächsten Jahre gelistet sind, in sich zusammen. Vielleicht bin ich zu alt? Oder nach nur anderthalb Wochen Radeltour noch nicht weichgeklopft und trainiert genug? Oder einfach am falschen Ort in der falschen Situation, und wenn ich vor der Porte stehen würde, könnte ich ihn doch hinaufradeln? Von siebenhundert auf zweitausendvierhundert Höhenmeter. Ein Tag Radelei. Mit Pausen. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich von Ax-les-Thermes aus startete. Ob die Straße frei genug ist, oder der Schnee beengende Gassen bilden würde, in denen man als Radler zum ärgerlichen, nicht überholbaren Hindernis wird für Busse, Autos, Tanklaster? Einfach war das damals auch nicht. Ein Niewieder rutscht mir heraus am Pass Gschütt. Niewieder solche Eskapaden. Ich bin zu schwach für die abenteuerlichen Dinge des Lebens, sollte mich so langsam dem leichten Radlerleben zuwenden. Ich bin reif für den Donauradweg. Den Rhein, Holland, Norddeutschland, die Altersruhesitze des Tourenradlers.

Schweiß auf der Stirn. Ansatzweise Kopfweh, was stets ein Zeichen ist, dass man zu wenig trinkt. Je höher ich kurbele, desto mehr verfluche ich nicht etwa die gerade bereiste Strecke, sondern das, was meine Roadmap in den nächsten Jahren noch vorsieht. Angst vor dem Scheitern, ganz klar. Wenn es die Zeit zulässt, stünde dieses Jahr noch die Straße nach Gibraltar an, die mich durch das gebirgigste Land Europas führen würde, Spanien. Und vorher tausend Kilometer Frankreich, ist auch nicht gerade flach. Immer wieder sage ich Niewieder. Dann, wenn es anstrengend wird. Und dann, wenn das Leben wieder fluffig und leicht läuft, ich daheim hinter dem Ofen hocke und jeglichen Komfort genieße, überkommt mich das Fernweh und ich frage mich, wieso konnte ich nur? Wie konnte ich nur Niewieder sagen in der und der Situation, so schlimm war es doch gar nicht und dann sitze ich vor den Tasten und hacke meine Gedanken ins Blog und mein Puls tickt ruhig und gleichmäßig und ich bin hochkonzentriert im Strom der Zeit und ich schwöre mir, nie wieder Niewieder zu sagen. Immer wieder.

18 Antworten auf „Immer wieder Niewieder – nie wieder Niewieder“

  1. Dick grinsen musste ich bei der „Schrittgeschindigkeit“. Oh ja das klingt nach elender Schinderei, die dir wohl beim Schreiben wieder in den Kopf kam. *mbg*

    Schmunzelgrüße, Szintilla

  2. Bei dem, was Du Dir immer wieder vornimmst, werden so Gedanken sicher bald Gewohnheit. Warum sollte man sich von lieb gewordenen Gewohnheiten trennen ?

  3. Nach einer solchen Schinderei, mit hin und her beschrieben, erlaube ich ausnahmsweise die Verwendung des Wortes „fluffig“, gibt mir allerdings zu denken, doch ist mir eh unmöglich, in den durstigen Kopf dieses Höhenbezwingers zu schauen…Gut, dass du kein fauler Tankstellen- und Tandkäufer bist, sondern einer der lebt wie sonst keiner….

  4. Über SoSos Blog bin ich nach hier geraten und fand den Bericht hochinteressant. Gratuliere zu der „Strampelleistung“! Ich muss ganz bald hier in Deinem Blog weiter nach Radlererzählungen herumschnüffeln.
    Bis dann, liebe Grüße aus dem südlichen Texas,
    Pit

  5. Oh dear, lieber Irgendlink, du bist ja ein Held! Immer diese Selbstüberwindung …
    Ich kenne das ja auch auf anderen Ebenen und frage mich immer noch, was ich mir damit beweisen will. Die Atwort weiß allein der Wind …
    Große Bewunderung von mir und meinen Buchfeen Siri und Selma
    Klausbernd

    1. Genau, Klausbernd,
      ich schließe mich Dir voll und ganz an und bewundere Irgendlink auch enorm. Gestern Morgen bei meinem Radeln habe ich die ganze Zeit an seine Leistung denken müssen, als ich einmal gerade 14 Meilen mit mickrigen noch nicht einmal ganz 200 Höhenmetern hinter mich gebracht habe und mir das schon Mühe genug gemacht hat.
      Liebe Grüße aus dem südlichen Texas, auch an Dich, Irgendlink,
      Pit

      1. Aber, lieber Pit, ich lasse mir natürlich Zeit fürs Reisen und erzwinge möglichst nichts. Bei dieser Tour allerdings war es ein bisschen zu streng, nicht zuletzt wegen der Hitze – 39 Grad durch München – und dem festen Tourende, spätestens am 6. August.
        Ein benachbarter Weltenradler, Thorsten Müller, hatte kürzlich übrigens über 10.000 Kilometer und unvorstellbare 85 HöhenKILOMETER! in den Kaukasus und zurück erradelt. Seht hier:
        http://thorsten-on-tour.jimdo.com/news/
        Da gibt es unter Impressionen auch viele Bilder seiner über vier Monate langen Reise.

        1. Lieber Irgendlink,
          ich lasse es ja auch (relativ) gemütlich angehen. Vor Allem achte ich darauf, dass es nicht zu Überanstrengung führt. Bei unserem Klima [Deine „Münchener Temperaturen“ haben wir hier ja für 3 bis 4 Monate fast am Stück] hier muss man da ja aufpassen. Obwohl: früher habe ich durchaus auch in der höchsten Mittagshitze meine bis zu 40 Meilen geschafft [mit einer Ausnahme: http://tinyurl.com/6wkkpdu%5D. Aber man wird ja älter! :) ;) Ein bisschen Anstrengung muss natürlich auch jetzt sein, damit die Fitness sich verbessert. Mein Ziel wäre, dass ich, wenn wir wirklich einmal nach Fredericksburg [Texas Hill Country] umziehen, dort meine 30 bis 40 Meilen ein oder zwei Mal die Woche schaffe. Es hat dort wirklich schöne Touren [z.B. http://tinyurl.com/cc32g9a%5D Hier in der Gegend ist das Radeln leider – seit wir den Ölboom haben – nicht mehr schön. Auf fast alle Straßen traue ich mich nicht mehr, weil es lebensgefährlich geworden ist. Eigentlich ist hier in Karnes County nur noch eine übriggeblieben, und das wird allmählich etwas langweilig – immer dieselbe Landstraße 7 Meilen rauf und dann 7 Meilen wieder runter. Für bessere/schönere Runden muss ich mindestens eine halbe Stunde Anfahrt per Auto einkalkulieren. Und das verdirbt mir etwas den Spaß. OK, genug geklagt. ;)
          Mit Radlergruß aus dem südlichen Texas,
          Pit

          1. Ohja, an die Alien-Geschichte erinnere ich mich noch. Das war unheimlich, finde ich. Aber erst kürzlich habe ich von einer Frau gehört, die wohl gestürzt ist und so benommen war, dass sie trotz Schädelbruchs nach Hause geradelt ist, anstatt die Ambulanz zu rufen. Sie verdankt ihr Leben einer Kollegin, die sie, besorgt wegen Abwesenheit, zu Hause aufsuchte und den Rettungsdienst rief.

          2. Was so eine Gehirnerschütterung doch Alles bewirken kann! Ich bin übrigens überzeugt, dass ich ohne Helm möglicherweise auch einen Schädelbruch davongetragen hätte. So war es dann nur ein „Helmbruch“.

    2. Lieber Klausbernd, Du hattest mir ja letztes Jahr sozusagen den Shackleton nahegelegt, wohl wegen des miesen Wetters, das auf der Nordseerunde herrschte. Selbst bei der Nordseeumrundung kannte das Wetter sicher kein Vergleich zu der Mieshheit des Wetters, die die Shackleton-Expedition anfang des 20. Jahrhunderts erdulden musste. Dennoch radelt man ja gerne mit so einem Heldengefühl umher. Quasi der selbstgebastelte Held. Der Antrieb für so eine Reise? Ich habe mich oft gefragt, ob es Eitelkeit, Exhibitionismus, die Lust am Kampf mit sich selbst, sich selbst überbieten zu wollen etc. ist. Alles eher wenig geschätzte Triebfedern, die wohl keiner zu hundert Prozent ausschließen kann. Ich komme zu dem erstaunlichen Schluss, dass die Eitelkeit und all das, gar nicht die treibende Kraft ist, sondern die pure Lust, eine Idee wahrzumachen, etwas auszuprobieren, zu experimentieren und zu schauen, wie das Ding wächst. Das Livebloggen ist eigentlich nur eine Begleiterscheinung. Viel lieber würde ich im Stillen arbeiten. Aber das würde dem kommunikativen Charakter, die die Projekte haben, widersprechen.

  6. Das kenne ich doch zu gut. Allerdings nicht vom Radeln, sondern vom Bergsteigen. Und das bleibt dir dann ja auch noch, wenn du irgendwann doch nicht mehr willst/kannst. Vielleicht muss es sich aber auch einfach so anfühlen, damit es einem hinterher richtig gut geht, wenn man es geschafft hat.
    Grüß die Berge :-)
    Constanze

    1. Liebe Constanze, Bergsteigen, wenn es nicht zu gefährlich wird, würde ich auch mal ausprobieren. SoSo und ich liebäugeln mit der Via Mala. Irgendwann mal, also nicht Gipfelstürmen, sondern sich unten durchschlängeln. Wobei ich glaube, dass es ein sehr gutes Gefühl ist, auf einem Gipfel anzukommen und den Moment zu genießen, rundumzublicken.

  7. 1. Norddeutschland ist eine gute Idee. Wird aber wohl noch ein paar Jahre dauern.

    2. Bin gerade froh, dass @Pit auch erst später hierher gekommen ist. Hab mir manchen Kommentar verkniffen, weil ihr euch alle schon lange und vor allem persönlich zu kennen scheint. Den Eindringling gibt keiner gern.

    3. Hat mich doch gewundert, dass du nicht direkt weitergeradelt bist zur Porte, um das nachzuprüfen. :P

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