Die unbequemen Gedanken an das Immer

Verflixt. Ich bin hochgradig nervös im Vorfeld der neuen Livereise. Das Hirn denkt und denkt und denkt. Bildlich gesehen handelt es sich bei meinem Hirn um einen verzweifelten Hamster, der in seinem Rad dreht und längst erkannt hat, dass es keinen Ausweg gibt. Nie, nie, nie gibt es diesen Ausweg! Und dennoch weiter rennt, weil die Maschine läuft. Jede Kraft, die dazu führen könnte, zum Stiilstand zu kommen, erzeugt nur weiteren Vortrieb. Vor der letztjährigen Radtour um die Nordsee gab es zwar auch eine gewisse Nervosität – soweit ich mich erinnere – aber der Fokus lag damals darauf, ob die Reise machbar ist, oder nicht. Es war ein ganz profanes, egoistisch-narzistisches Menschendenken. Nun aber liegt der Fokus auf der Frage, ob das neue Projekt womöglich im Wahnsinn endet. Der bevorstehende Denkprozess – um nichts anderes handelt es sich bei meinen Livereisen, Denkprozesse, permanent gebloggte Gedanken zum Leben im Spannungsbogen Sein und Werden – ist unbequem.

Liegt es nicht in der Eigenart von uns Menschen, dass wir uns ein paartausend Jahre zurückdenken können, und ein paarhundert Jahre voraus und uns ein Bild unserer Umgebung zurechtdenken können, das wohlgeformt und schlüssig ist, aber sobald wir uns zu weit hinaus lehnen und uns in Sphären begeben, die uns eigentlich nicht betreffen, um die wir uns besser nicht scheren sollten, entfaltet sich eine unheimliche, beängstigende Weite? Zehntausend Jahre zurück und hundert Jahre voraus, das ist unser zeitlicher Horizont. Wer darüber hinaus denkt, riskiert wahnsinnig zu werden. Alles, was heutzutage Bedeutung hat, wird, schneller als uns lieb ist, gar nichts mehr bedeuten. Diese Sorge lässt sich kurzfristig mit Hilfskonstrukten wie Gott oder abstrakten philosophischen Ansichten besänftigen. Irgendwann aber ist schluss.
Wie stellt sich das zum Beispiel dar, wenn die Dinosaurier einst eine denkende, philosophierende Hochkultur gewesen wären, die sich eine in sich schlüssige Welt geschaffen hätten und an die Zukunft, vielleicht sogar die Ewigkeit geglaubt hätten? Sie und all die Pflanzen, die unter Hochdruck zu Öl und Diamanten zerquetscht wurden. Eingeschlossen unter Tonnen von Erde. Einst denkend, philosophierend, heute nur ein Ölfeld oder eine Diamantenmine. Wir, die aktuell amtierende Hochkultur, verbrennen sie in unseren Dieselmaschinchen, mähen den Rasen, heizen unsere Wohnungen, fassen sie in Edelmetalle und hängen sie uns als Schmuck um die Hälse.

Was macht es für einen Sinn, wenn ich kleiner Künstler demnächst ins Memory of Mankind Archiv nach Hallstatt radele, und die lebendige Reise aus dem Moment heraus auf hunderten von Tonkacheln dokumentiere, die sich gewiss eine ganze Weile im Salzberg halten werden, und die vielleicht irgendwann gefunden und von den Archäologen der Zukunft interpretiert werden? Wie sehen die Archäologen der Zukunft überhaupt aus? Sind sie Insekten mit riesigen Gehirnen, die einen für heutige Verhältnisse unvorstellbaren IQ aufweisen? Sind es Roboter, die ggf. von uns erschaffen wurden? Werden womöglich in hunderttausend Jahren Außerirdische auf der Erde angekommen sein, und nachschauen, was hier so alles passiert ist? Oder wird einfach nur Nichts sein. Niemand denkt mehr. Nur Leere und Tod. Niemanden interessiert, was wir waren. Und im Laufe weiterer Jahrmillionen wird sowieso alles zerrieben werden zu Atomen, die keinerlei sinnvolle Struktur mehr aufweisen?

Noch vor drei Wochen gab es die Idee gar nicht, dass ich die achthundert Kilometer rüber radeln könnte ins Memory of Mankind Archiv, um eine Schneiße durch unsere Kultur zu schlagen und mich beschäftigen könnte mit der mir selbst auferlegten Aufgabe: denke nach über Gegenwart und Ewigkeit. Aber nun habe ich den Einstieg gefunden in das Hamsterrad, dessen Ausweg womöglich in die Klapsmühle führt. Was, wenn ein Dinosaurier sich einst selbst so wichtig genommen hätte, wie ich mich heute?
Ich kann es nicht mehr stoppen.  Die Weichen sind gestellt. Und es ist ja auch reizvoll. Wenn nur nicht alles so sinnlos schiene.

Konzentriere Dich auf das Jetzt. Verdränge die unbequemen Gedanken an das Immer.

10 Antworten auf „Die unbequemen Gedanken an das Immer“

  1. Sinnlos?

    Bist nicht Du selbst es, der Deinen Reisen einen Sinn gibt, ihnen einen Sinn abgewinnen kann?

    Es wird etwas bleiben von Dir – sehr lange bleiben VON DIR. Mann, Künstler, Radfahrer, Appspressionist: Das ist mehr, als 99,9999% aller Menschen je erreichen werden.

    Der Sinn des Lebens ist: Gelebt zu sein und etwas zu hinterlassen davon, mehr als Artefakte in einer Abortgrube oder in einem Brunnenschacht …

    1. Emil, gelebt werden ja, etwas hinterlassen nein. Das ist ja das Problem, wenn man sich so weit in die Zukunft denkt: dann darf man auch keine derzeitig gängigen Maßstäbe setzen.

  2. im letzten satz findest du deine lösung und die von allen. der MOM-gedanke ist an sich wahnsinn, aber warum auch nicht?
    er ist nämlich auch genial.
    vergiss also die ewigkeit? why not?!

    1. SoSo, da hast Du recht. Dennoch bleibt das ungute Gefühl – wenn man nur weit genug spekuliert, bricht irgendwann jede Sinnkette zusammen. Und das raubt einem die Kraft im Jetzt.

    1. Es ist berauschend, mal eine Ausstellung an einem solch ungewöhnlichen Ort zu haben. Kommentatorin Szintilla war kürzlich in dem Salzstock. Sie hatte sogar die erste Tafel gesehen, die wir angefertigt hatten, um zu sehen, wie sich Kunst auf den Kacheln macht.
      Und: DAS nenn ich mal ne Dauerausstellung. :-) Man müsste überlegen, ob das etwas fürs Guinness Buch der Rekorde ist :-)

  3. Sinnhaftigkeit ist phasenweise da. Machen das nicht auch Hormone? Fühlen Tiere sich sinnvoll?
    Du radelst als Philosoph von der Nähe vom Musikantenland plus Höhlenkachelkünstler, das ist schon mal was.
    Diese Sinnsuchsuppe wabert überall, wohin man auch radelt…

  4. Das Zusammenbrechen der Sinnkette kann durchaus etwas Befreiendes haben, das eine ganz andere Form von Kraft gibt. Meist aber erst sehr viel später, weil: Das zu begreifen dauert.
    Wir sind alle unbedeutend und völlig egal. Selbst wenn ein gebrannter Scherben bleibt.

    1. Ein wahres Wort, Robert, das mit dem Befreienden. Die Frage ist nur, ob man befreit werden will. Nehmen wir mal an, alles, was man bisher an Lebenszeit investiert hat, hat man auf eine Sache gerichtet, kontinuierlich darauf hingearbeitet. Und das permanente darauf Hinarbeiten hat in sich geschlossen der Sache Sinn gegeben. Wenn man schließlich das Ziel erreicht hat, und es nichts mehr zu tun gibt, dann fällt man ins Nichts. Damit erst einmal klar kommen … Das MOM Projekt fördert die Gedanken an eine Zeit danach, nach dem Allem. Da ist nur noch Nichts.

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