Blut, Kot und Geschwüre

Der Job hätte gepasst: täglich um die Mittagszeit einen uralten Kleinwagen in die Landeshauptstadt jagen und unterwegs in diversen Kliniken und urologischen Praxen Kisten abliefern, bzw. abholen, Briefe und Röhrchen seien darin, hatte man mir versichert. Die Firma: im Nachbarstädtchen mit dem Rad prima zu erreichen; die Bezahlung: am untersten Ende der Skala; aber: mit wehendem Haar einen friedlichen Fahrjob ausführen, der dem spartanisch lebenden Künstler die materielle Inkonsistenz, die das Künstlerleben mit sich bringt, ausbalancieren kann; kurzum: wie einst Möbel tackern, nur mit Blut, Kot und Geschwüren. Dass alles anders kommen würde, war zu erwarten.

So stellte ich mich bei der Firmenchefin Punkt zwölf in ihrer Privatwohnung vor, die auch gleichzeitig die Firmenzentrale zu sein schien. Küche voller Nippes, eine Weihnachtskrippe auf dem Fensterbrett. Kettenraucherin. Wir saßen am Tisch und ich erfuhr, dass im Herbst der Kopf der Firma, ihr Gatte, gestorben war, und sie nun das Unternehmen zusammen mit dem Bub führen würde. Vier fünf Touren, die täglich Gewebeproben aus dem ganzen Land zur zentralen Pathologie bringen und die Befunde zurück in die Praxen. Der Bub würde gleich kommen, er arbeite als Bestatter. Nachmittags würde er diese, meine Tour fahren, vorläufig, aber das gehe ja nicht auf Dauer, dieses Doppelleben, diese Schinderei, diese ewige Hatz. Der Bub, ungefähr gleichalt wie ich, sieht zehn Jahre älter aus und, wie sich herausstellen sollte, benimmt sich, als wäre er zwanzig Jahre jünger.

Raus aus den Sicherheitsschuhen und dem Totengräberdress, rein in die Autoklamotten, ein Schluck Cola und eine Stulle zwischen den Jobs – in diesem Land stimmt was nicht. Die Einen haben zu viel Arbeit, die Anderen zu wenig. Aber statt etwas langsamer zu treten, herrscht die Tendenz, mehr und mehr und mehr zu machen, ganz leistungsbürgeresque: die Angst, dass man den Job verliert, veranlasst die Menschen, die eigene Grenze zu überschreiten. Ich diagnostiziere gesellschaftliches Glaukom. Der soziale Innendruck steigt kontinuierlich. Das Zusammenleben ist ein Dampftopf ohne Ventil. So erlebe ich den neuen Chef als massiges, ungeduschtes, geisthaftes Wesen zwischen zwei Jobs auf der Jagd nach Geld. Die schneeweißen Turnschuhe aus Kunststoff und die flatternde Jogginghose aus türkisenem, glänzendem Stoff verzeihe ich und steige arglos in das wohl dreckigste Auto der Region. Ein klebendes Etwas, das er liebevoll als sein Ex-Auto vorstellt. PS und Verbrauch usw. schnell erklärt und es hatte nie eine Panne. Das neue steht vor der Tür, ein Audische (Verniedlichung für Audi), ja, über Autos können wir (nein, er) uns prächtig unterhalten. Unser Ziel: meine alte Heimat. In einem der Krankenhäuser, die wir ansteuern, habe ich zwanzig Monate gedient. Kurzum: ich kenne mich bestens aus und wenn man mir eine Liste der anzufahrenden Orte geben würde, könnte ich die Tour blind fahren. Aber Mösjö Bub will den Chef spielen und den Neuen fundiert einarbeiten. Jovial erklärt er mir die Radarkontrollen – er kennt sie alle – und wo es den günstigsten Sprit gibt und kommentiert zwischendurch die Fahrweise der anderen VerkehrsteilnehmerInnen – insbesondere der Innen – während ich überlege, ob wir im Kofferraum wohl Körperteile von Menschen transportieren, die ich kenne. Fußball bleibt mir als Gesprächsthema erspart und ihm die Kunst, da ich weiß, wie allergisch manche Menschen auf dieses unheimliche Thema reagieren. Satanas! Ich ziehe alle Register des Masochismus, lasse duldsam die Kettenraucherei im geschlossenen Wagen, das Geschimpfe und den eigenartigen Geruch – kommt der von den schneeweißen Schuhen oder den Geschwüren im Kofferraum? – über mich ergehen. Mache mir Notizen: „Box für Krankenhaus soundso vorm Fahrstuhl abstellen“ – „In derundder Verwaltung nach Briefen fragen“ – „Den Fahrer vom Nachbarkrankenhaus Soundso abwarten, ggf. die Box, die er bringt, einladen“ usw. So hangeln wir uns über 150 Kilometer durch Arztpraxen und Kliniken, bringen und holen, und ich denke mir den Job als sehr angenehm zurecht, fahre vielleicht schon Morgen, alleine, die Tour bei offenem Fenster und tumber Stille, in der man in meinem Hirn einen winzigen Hamster rotieren sehen kann, in einem winzigen Hamsterrad einer winzigen Möhre hinterher jagend, die sich partout nicht fassen lassen will. In der Kleinstadt A. hupt mein neuer Chef an einer Ampel einem kaum zwanzigjährigen Mädchen zu und grinst dreckig hinüber – ich verschmelze mit dem klebrigen Beifahrersitz. Der Wunsch, unsichtbar zu sein, oder nicht zu existieren, oder zerlegt in Geschwüre in den Boxen im Kofferraum zu sein, ist übermächtig. Innere Kündigung. Die Sache erledigt sich endgültig bei der Ankunft in der Basis, als mir mein zukünftiger Ex-Chef, le Bub Sir, der mich offenbar richtig ins Herz geschlossen hat, väterlich auf die Schulter klopft: Dann sehen wir uns Morgen wieder! Ich würde sagen, Sie fahren diesen Monat mal mit mir, damit Sie das von der Pieke auf lernen! Gleichzeitig offeriert mir die Chief-Mum, dass ich doch sicher Verständnis dafür habe, dass sie mir für die Einarbeitungszeit nichts zahlen kann, weil sie ja den Bub bezahlen muss. Und das Anfang Monat! Elegant verweise ich auf die komplexen Meldungen bei der Künstlersozialkasse und dass ich – beim besten Willen – ohne Vertrag nichts machen darf, und dass es für den Arbeitgeber sehr teuer werden kann … wir verbleiben mit getauschten Telefonnummern.

Seitdem herrscht Friede in mir. Das Hamsterrad steht still. Ich fabuliere an einem Traktat über gesellschaftliches Glaukom und sozialen Innendruck.

13 Antworten auf „Blut, Kot und Geschwüre“

    1. Der Titel sollte anders lauten. Die Geschwüre sind ein Vorschlag oder ein Versprecher von SoSo. Der Rest hat sich so zugetragen.
      Boulogne wird sicher der Horror, aber dankeeee.

  1. Das Leben kann so dreckig sein. Die Geschichten ein Albtraum. Aber so gut, daß sie nach Überwindung erzählt werden.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

  2. Sehr schöne Geschichte. :-) Und irgendwie bin ich heilfroh, dass mich der werte Monsieur diesmal ausnahmsweise NICHT mit auf die Reise genommen hat. Neben einem Kettenraucher im zugemüllten Auto, das muss nun wirklich nicht sein. Da atme ich ja schon beim Lesen instinktiv etwas flacher. ;-)
    Liebe Grüße an dich und an die SoSo,
    Andrea

  3. poh … ein tag aus dem deutschen arbeitswahn … herr irgendlink: bravourös überlebt und geschrieben! ich mache eine kleine verbeugung und bin schon wieder weg ;)

    liebgrüß … ob ihr jetzt wohl schon angekommen seid? und was wird das wieder für ein film? lach … freue mich schon auf den nächsten artikel

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