Prozesswesen

Runter in die Stadt. Die Einsamkeit des Gehöfts, auf dem ich lebe, endet nur hundert Meter entfernt auf der Landstraße, wo ich mich für gewöhnlich in den fließenden Verkehr einfädele. Ein Auto mit Sankt Wendeler Kennzeichen schleicht mit Sechzig vor mir her, trotz keinem Gegenverkehr überhole ich nicht, da vor dem Auto ein Wohnmobil fährt und vor dem Wohnmobil ein Tieflader mit Bagger. Bald schon sind wir an der Stadtgrenze, wo ohnehin nur noch Fünfzig gefahren werden darf. Was sind wir: Prozesswesen. In uns läuft ein Programm und wir alle sind Teil eines größeren Programms, das in Boole’schen wenn-dann-Schleifen ewig mahlt. Unds und Oders verknüpft mit Nichtunds und Nichtoders, garniert mit einem Ansonsten hie und da. Wie sähe die Welt von Oben betrachtet aus? Ein Gewusel an Fahrzeugen, die sich an Kreuzungen Vorfahrt gewähren, die unvermittelt, scheinbar Höherem gehorchend, abbiegen. An einer Baustellenampel fährt der Sankt Wendeler bei Längst-schon-rot. Ich stoppe und besinne mich während der Wartezeit auf die Gegenwart. Wenn wir Prozesswesen sind und so eine Art Programm abläuft, in jedem von uns, dann ist doch wohl der gegenwärtige Status des Programms am Wichtigsten. In meinem Fall: stehe vor einer Baustellenampel und warte auf Grün. Es ist ungemein wichtig, auf Grün zu warten, da nämlich in den Prozesswesen auf der anderen Seite der Baustelle auch ein Programm läuft und wir uns somit als Unterprozesse in einem größeren Prozess befinden. Auf der anderen Seite der Baustelle haben sie  Grün. Wenn du dich widersetzst und bei Rot fährst, so riskierst du einen Konflikt. Ich habe es eilig, habe einen Termin. Mein Prozess droht, aus zeitlichen Gründen zu kollabieren, was auf den Gesamtprozess nicht wirkungslos bleibt. Mittels Zeitschleifen hängt das alles zusammen. An der nächsten Ampel steht der Sankt Wendeler wieder vor mir. Mann, Mann, Mann, ist ganz schön was los in der Stadt. In gewissem Rahmen laufen wir Prozesswesen auch unter fehlerhaften Bedingungen reibungslos. Ich schaffe den Termin, ein Arztbesuch und habe sogar noch ein bisschen Zeit, aus dem Wartezimmer zu starren. Durch die zwanzig zentimeter breiten Lamellen der Jalousie. Ein in Streifen zerlegtes Bild, das eine Gießkanne vor einem dunklen Fenster im zweiten Stock des Nachbargebäudes zeigt. Die Herbstsonne wirft einen schrägen Schatten auf die Kanne, der sich exakt mit dem schrägen Ausguss der Kanne deckt und während ich gerade sinniere, ob sich in der Kanne Wasser befindet, nichts, bzw. Luft, nimmt mein Ohr ein seltsames Klacken in den Hinterzimmern der Praxis wahr. Vielleicht ist in der Gießkanne Blut? Das Klacken klingt wie eine Spielzeugdampfmaschine und ich stelle mir den Doc vor, wie er während seiner kurzen Verschnaufpausen zur Entspannung einen Spieleraum eingerichtet hat, in dem er mit ein paar Brocken Esbit die Dampfmaschine erhitzt und Miniatur-Maschinchen betreibt. Das wäre doch glatt ein Bild für den bauesoterischen Krimi, den ich einmal schreiben werde – wenn der irgendlink’sche Lebensprozess an die Stelle gelangt, an der es per Boole’scher Verknüpfung vorgesehen ist. Überhaupt, das Nichts, wende ich mich wieder der Gießkanne voller Blut zu, vor dem Fenster auf der anderen Straßenseite. Wenn eine Gießkanne kein Wasser enthält, ist sie leer, glauben die meisten Leute, aber das stimmt doch nicht. Luft ist immer drin. Und wo Luft ist, ist nicht Leere und nicht nichts. Wie hirnrissig kann ein Gedankenprozess ablaufen, wenn man in einem Wartezimmer sitzt kurz vor der Grippewelle und sich mit irgendwas die Zeit vertreiben muss (Zeitunglesen wäre im Fall geradezu selbstmörderisch, weil da ja die Grippeatome dran kleben). Am besten man fasst überhaupt nichts an und hält sich beim Atmen ein Taschentuch vor den Mund. Schon Blickkontakt könnte gefährlich werden. Während ich dergestalt eine Paranoia entwickele und mein Hirn über die Dampfmaschine und die Gießkanne voller Blut nachdenkt, kommt mir in den Sinn, dass in der Welt vielleicht das Nichts und das Etwas so perfekt gemischt sind, dass man es nicht mitkriegt. Dass diejenigen, die auf der Etwas-Seite des Lebens stehen, wo sie auch hinblicken, Materie erkennen, aber nicht wahrnehmen, dass zwischen den Molekülen und den Atomkernen und den Elektronen Lücken klaffen, in denen sich nichts befindet. Analog gibt es womöglich die Nichtswelt, in der ein Nichtsmensch gerade bei seinem Nichtsarzt aus dem Nichtwartezimmer auf eine leere Nichtgießkanne starrt und sich nicht vorstellen kann, dass sich darin etwas befindet.

Endlich kommt der Doc. Ich bin heilfroh, dass er kein Psychiarter ist. Er erklärt mir das Dilemma mit den vielen Viren in der Praxis, und dass er ein schwers Los habe, wegen der Viren. Ich glaube, er erwähnte den Begriff Immunsupression. Kurze Zeit später treibt mich der laufende Prozess zur größten Buchhandlung der Stadt. Ich durchforste das Regal mit den Mängelexemplaren und dem Ramsch und den billigen Lebensratgebern, welches mitten in der Fußgängerzone prangt. Ich schlage einen Bildband Woodstock auf. Rabenschwarze Füße ragen aus einem notdürftig zusammen geschusterten Zelt. Sechzigerjahre Männerfüße, Frauenfüße. Man sieht Hügel voller Menschen und unscharfe Fotos von den Musikern. Flowerpower. Zwei Bücher weiter liegt ein Bildband über das römische Weltreich. Ob es der Prozess so will, oder ob es purer Zufall ist: ein Mann in Oberlehrerkleidung tritt neben mich, greift nach dem Weltreichbuch und murmelt: Ich kaufe mir das römische Weltreich. Jetzt bloß nix sagen, denke ich mir. Wer weiß, wo das endet. Ruckzuck haste den Kerl an der Backe und er doziert über die römische Kultur und du wirst ihn nicht mehr los. Der sucht doch nur Anschluss. Eine Orgie kollektiver Prozessprogrammierung ist das heut‘ aber auch. Ich lasse Woodstock liegen.

Auf dem Heimweg sieht der interne Prozess vor, einen Hook anzulegen, auf dem man im laufenden Denkprozess irgendwann zurück kommen könnte. Schließlich ist mir in den letzten Stunden eine wunderbare Geschichte poassiert, die es aufzuschreiben gilt. Ich lege einen Anker in der nimmer enden wollenden Schleife des eigenen Denkens, der Tage jenseits der Gegenwart es ermöglicht, aus all dem Erlebten vor allem aus der Gießkanne und dem schrägen Schatten, einen Blogartikel zu zimmern. Eigenartig ist das schon, dass ich jetzt, Tage vorgerückt in eine andere Gegenwart, über eine längst vergangene Gegenwart schreibe. Zugegebener Maßen müsste sich im Vergleich zur Unendlichkeit sowieso alles von Menschen Gedachte um Gegenwart handeln. Man könnte sagen, die Zeitspanne zwischen Rom, Woodstock und jetzt geht gegen Null.

(23. Oktober 2012)

7 Antworten auf „Prozesswesen“

  1. ich liebe solche texte von dir. und andere auch, aber das weisst du ja …
    mal gucken, wohin mit mein heutiger prozess treibt. radladen, dann reussspaziergang mit sonne …
    so prozesse, ja, die haben viel schlummerndes potenzial … küss sie wach, dann wirste sie nicht mehr los … :-)

  2. Momente des Jetzts einfrieren, in Worte und Bilder, dann teilen … klar, das Jetzt ist schon längst vorbei und Jetzt ist ein ganz anderes Jetzt, so bleibt nur eins jetzt in den Fluss von Gegenwart steigen und schwimmen, von einem Augenblick zum anderen, zwischendurch mal innehalten, all die Jetzts aneinanderreihen, wie Tautropfen auf einen Grashalm und dann kommt am Ende doch noch eine feine Geschichte heraus oder ein Bild …

    die Gießkanne voll mit Blut, lässt mich gruseln und ich denke an die Gießkannen auf dem Friedhof, die ich vor ein paar Tagen fotografierte, grün waren sie, wie die meisten, umrahmt von grau bis weiß … leer waren sie, voller Luft, nicht Blut, weil die Luft nicht zu Eis wird und die Kannen sprengen könnte …

    herzliche Grüße hin zu dir auf das einsame Gehöft mit den unendlichen Fotomotiven … U.

  3. Anker setzen – das hat mich berührt. Ich wusste ich auf einmal, dass das oft fehlt: Ein Anker, um den ewig rödelnde Gedanke sich selber schlingen und zur Ruhe kommen. Dann hat das nächste Gedankenknäuel Platz, oder eine Aktion. Die Formulierung dieser eindringlichen Momentaufnahmen zum Beispiel. Ein toller Artikel! :-)

  4. Ich mag diese schrägen abschweifenden Gedankengänge und -spiele (beim Warten, vor allem in Wartezimmern, passiert mir manchmal Ähnliches). Ein Text, in den ich mich hineingezogen fühle.

    1. Wartezimmer sind wahre Fundgruben für Geschichten – und weil man dort meist morgens wartet, wenn das Hirn noch schön weichgeklopft ist von den Träumen der Nacht, gibts manchmal die wunderlichsten Assoziationen.

Schreibe einen Kommentar zu Klausbernd Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: