Der Mensch

Die Zukunft liegt im Mensch. Ich hab ihn vernachlässigt. Ich musste ihn vernachlässigen. Ich hatte keine Zeit.

Die Radtour um die Nordsee hatte ab Itzehoe eine unerfreuliche Geschwindigkeit erreicht. Ab Emden musste ich meine Tagesetappen per Radel auf etwa hundert Kilometer steigern, um die Runde halbwegs logisch zu Ende zu bringen. Eine pure Kopfentscheidung. Teile die Distanz, die dich von zu Hause trennt durch die Anzahl der Tage, die dir zur Verfügung stehen. Fummele irgendwas mit Distanzen. Da bleibt keine Zeit mehr für Mensch.

Dabei hätte alles so spannend werden können. Schon im April, als ich gerade mal durch England ackerte, hatte Engelbert von Seelenfarben in seinem Blog aufgerufen, Übernachtungsgelegenheiten und geheime BloggerInnentreffen zu arrangieren, falls ich es tatsächlich schaffen könnte, mit dem Fahrrad die Nordsee zu umrunden. Eine schöne Überraschung sollte das sein mit echtem rotem Teppich entlang der gesamten deutschprachigen Nordseebloggosphäre. Viele seiner Leserinnen und Leser hatten sich auf diesen Aufruf gemeldet, dass ich doch bei ihnen vorbei schauen könnte. In Sarpstorp (Norwegen) sogar, und in Husum, in Sankt Michaelisdonn, in Cux- und Wilhelmshaven und wo-weiß-ich noch. Ein roter Teppich aus lieben Menschen an der gesamten deutschen Nordseeküste und ich habe mich durch ganz Dänemark riesig gefreut auf die Reise durchs Seelenfarbenland (Seelenfarben ist Engelberts Kernpräsenz im Internet, hat etliche tausende Fans).

In Deutschland holt mich dummerweise die Realität ein. Als langsamer Radler hat man gegen die schnelle Realität keine Chance. Schon habe ich einige Treffen vereinbart. Gabi in Sarpstorp schaffe ich schon nicht. Mit Karen und Carsten in Sankt Michelisdonn kann ich mich gerade so noch treffen und alle anderen „Termine“ sage ich klammheimlich ab, weil ich ab Deutschland wegen der Zeitknappheit hundert Kilometer am Tag radele. Freiwillig. Es tut ein bisschen weh, keine Zeit zu haben. Ich realisiere, dass das ganz normale Alltagsleben, das in den vielen Wochen, die ich um die Nordsee geradelt bin, klammheimlich immer noch vor sich hin getickt hat. Klare Kopfentscheidung: wenn ich die Nordseerunde radelnd zu Ende bringen will, sprich, der Küste rund ums Meer bis Boulogne folgen will und zu guter Letzt die knapp siebenhundert Kilometer bis Zweibrücken schaffen will, muss ich sputen. Da bleibt keine Zeit mehr für persönliche Begegnungen. Da kann ich nicht einfach mal so einen halben Tag hier Kaffee trinken und Schwätzchen halten, eine Nacht dort verbringen und tiefgründende Gespräche führen. Klare Kopfentscheidung: Meide den Menschen. Meide das Persönliche. Eine faire Entscheidung, wie ich finde. Ich will nicht einfach so bei den fremden Leutchen aufschlagen und übernachten und ein Frühstück einnehmen und weiterradeln. Das wäre einfach nicht gerecht. Das wäre sogar unverschämt. Also ist die einzig richtige Wahl die Einsamkeit. Bringe die Nordseerunde schnell, präzise und alleine zu Ende. Ohne gehetzt bei Fremden lieben Menschen zu Besuch zu sein.

Immerhin gab es dennoch menschelnde Kontakte zwischendurch, die sozusagen on-the-fly einfach so passierten. In Holland etwa verbringe ich einen ganzen Morgen mit Henriette und Michelle auf einem Minicamping. Kurz vor der belgischen Grenze. Auch die Zeit mit Monsieur Quehen im ehrwürdigen Saal des Standesamts in Boulogne sur Mer ist mir in bester Erinnerung. In den Stakatophasen des Speedlifes ist stets auch eine Nische für Ruhigeres. Aber geplant irgendwo sich zu verabreden, meine Lieben, das wäre in der Tat eine kleine Schandtat gewesen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei all denen entschuldigen, die ich nicht treffen konnte auf der Reise, bei Dir lieber Engelbert, der Du die Sache angeleiert hast, und bei all jenen, die sich gemeldet haben, um mich zu „begasten“.

Aufgeschoben ist nicht … ihr wisst schon. Die Zukunft lebt bekanntlich durch ihre Gegenwärtigkeit und die Gegenwärtigkeit lebt durch ihre verschwenderische Hingabe an die Zeit. Kurzum. Du, Mensch, bist es wert, dass man dir ein gebührendes Maß an Zeit widmet.

Daran arbeite ich. Ich bin gespannt auf Dich.

2 Antworten auf „Der Mensch“

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