Das große Elend der präenergetischen Liveschreibe

24. Juni 2412 – In der Akademie für Digitale Live-Projektion lehrt man noch heute die unkonventionellen Methoden, die auf die Bloglegende Irgendlink zurück gehen, mit denen man einen eher lahmen Bericht, in dem sich der/die Liveschreibende „festgefahren“ hat, wieder beleben kann. Seit 400 Jahren gilt Irgendlinks „Ums Meer“-Blog als das Standard-Werk schlechthin. Nicht zu Unrecht steht es als eines der letzten Druckwerke des ausgehenden Zeitalters des Buchdrucks in jeder kleinen Bibliothek, die etwas auf sich hält.

Ich möchte in diesem Artikel an den 400sten Geburtstag des wohl kernigsten Artikels, den Irgendlink je geschrieben hat, erinnern. In dem live geschriebenen, unkorrigierten Ist-wie-es-ist (IWEI) wurde seither eine Art Manifest des Livebloggens gesehen, nicht unumstritten von den beleseneren Zeitgenossen. Auf verblüffende Weise springt der Liveliterat von Ebene zu Ebene, die sich während seiner Reise im jahr 2012 „wie aus dem Nichts“ für die wenigen Lesenden des Liveberichts manifestierten.

(B) Mal ist die Rede von dem imaginären Butler James, mal schlüpft der Autor in die Rolle des naiven Jungen, um auf flapsige Weise einen nativ kindlichen Stil, gewürzt mit ein bisschen Ironie, einzunehmen, um kurze Zeit später in die Rolle der Figur Knildnegri, alias Lind Kernig zu schlüpfen. Ein Pseudonym, das er selbst nur sehr selten benutzte und das ich mir nun angeeignet habe.

(B) Irgendlink erdreistet sich, seinen Artikel zu eröffnen mit den Worten:
„Liebes Tagebuch, der Clown, den mir James, mein aufblasbarer Butler heute serviert hat, war ein sehr trauriger Kerl. Er hieß August und er war sehr sehr dumm. James hat auf der Butlerschule in Oxford einen wunderbaren Trick gelernt, mit dem er fast jeden Clown fangen kann. Er gibt vor, ihnen eine Gratis-Fußverlängerung zu machen. So gehen sie ihm arglos ins Netz. James ist ein meisterlicher Clownkoch. Mit Basilikum. Lecker. Die Schuhe hat er zu einem Kreuz geformt und es am Wegesrand aufgestellt.

(B) Liebes Tagebuch, warum ich so traurig bin heute, liegt aber nicht an dem August, der die Mundwinkel hat hängen lassen wie ein dicker Filmhund die sabbrigen Leftzen, nein, nein, es sind die Kommentatoren, Axel und Klausbernd, die so gemein zu mir waren. Ich frage mich, ob man durchs viele Clownessen dumm werden kann, oder blind, aber das, was ich mache, ist doch Kunst, liebes Tagebuch, und nun kommen diese Rüpel daher und kritteln daran herum und sagen, da musste aber noch viel daran arbeiten, das ist doch keine Mona Lisa, du Schmierfink, geh erstmal zur Schule und lerne ordentlich schreiben. Und so weiter und so fort. Mann sind die gemein. Der Axel ist ein richtiger Rüpel und viel stärker, als ich. Klausbernd stärkt ihm auch noch den Rücken, diese Schlange.“

Soweit so gut. Die latent kindlichen Worte eines gekränkten Bloggers, der sich auf diese Weise Luft macht über einen Kommentrarstrang, in dem einmal nicht alle ihm hinterher hündeln und sagen, „Bravo, Junge, das hast Du aber feiiin gemacht“? Weit gefehlt.

Sehen Sie selbst, wie der live Schreibende mit einer imaginären Außenbetrachtung aus dem Jahr 2412 überleitet zur erlebten Erzählebene des Dänemarks 2012:
(B) „Soweit so gut. Die latent kindlichen Worte eines gekränkten Bloggers, der sich auf diese Weise Luft macht über einen Kommentrarstrang, in dem einmal nicht alle ihm hinterher hündeln und sagen, „Bravo, Junge, das hast Du aber feiiin gemacht“? Weit gefehlt. Sehen Sie selbst, wie der live Schreibende mit einer imaginären Außenbetrachtung aus dem Jahr 2412 überleitet zur erlebten Erzählebene des Dänemarks 2012 und nach einem Doppelpunkt steigt er ein in den tagesaktuellen Text:
Dauerregen. Was auf der Zeltplane außen romantisch klingt, ist innen eine düstere Bedrohung. Ich beginne einen Artikel zu schreiben, ständig diese Diskussion im Sinn, paar Artikel zuvor, angezettelt durch Axel, geschürt durch Klausbernd. Eigentlich muss ich euch ja dankbar sein. Das Blog ist tatsächlich ein bisschen schläfrig geworden. Spiegel meines Daseins? Spiegel der Landschaft, die ich durchradele? Es gibt nicht jeden Tag etwas zu erzählen. Jeder ist seines Blogs Schmied, habe ich einmal geschrieben. Und: Alles ist erlaubt, habe ich einmal einen Satz geklaut irgendwo, vielleicht in der Weltliteratur. Sprich, ich kann hier einfach machen, was ich will. Ich handele sowieso der modernen Bloglehre permanent zu wider. Die Einträge sind viel zu lang. Es gibt keine Schlüsselwortkonzentration. Ich müsste viel häufiger Worte wie Nordseeradweg in H2-Tags setzen oder in Strong-Passagen, müsste die Keywords meiner wenigen SponsorInnen mit Links anpreisen. Dumm, dass die Kunst frei ist und man machen kann, was man will. Denjenigen Lesenden, die sich an Technikdingen langweilen, werde ich einfache Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Text geben. Sicher sind Euch die vielen Bs, scheinbar unsinnig im Text verteilt, aufgefallen. Sie stehen für „Bitte aufhören“. da könnt Ihr dann einfach den Text verlassen und woanders weiterlesen.

Gegen eins baue ich das Zelt neben der Siloanlage ab, radele durch langweiliges Schafland. Genau, wie Rute in Skagen gesagt hat: die Gegend bis Esbjerg von der Grenze an, ist nicht interessant. Da es nichts zu tun gibt, außer nass werden und Blogartikel basteln, überlege ich, sämtliche Register des Livebloggens zu ziehen und mich quasi selbst herauszufordern, indem ich einen Artikel schreibe, in dem sämtliche latent skizzierten Ebenen des bisherigen Liveberichts gleichzeitig drin vorkommen: ein bisschen Clown, ein bisschen Lind Kernig, ein bisschen echter Irgendlink, ein bisschen Ironie hier, und ein Stück Jürgen Rinck, das ganze spult sich in meinem Kopf ab, wie die Pedale sich drehen – als treiben die Beine das Hirn an, ach ja, und den Bezug zur Realität, bitteschön, den stelle ich mit Einblendungen echter Erlebnisse dar. Der Typ im Toyota-Pickup an dieser Kreuzung kommt mir gerade recht. Mit offenem Seitenfenster wartet er auf mich, scheinbar, um links abzubiegen, und ich rufe durch den Dunst Hei und er ruft zurück und ich bin schon vorbei, drehe mich noch einmal um und er steht immer noch da, legt den Rückwärtsgang ein, als ich schon wieder rein trete, mich wieder umdrehe, er zurück fährt, auf mich zu und dann wird mir klar, dass er mit mir reden will, warum auch nicht. Der Mann hat Zeit, strömt Ruhe aus, erzählt mir von einem Lagerplatz, drei Kilometer weiter, mit einfachen Facilities, Toilette, Wasser, Wiese, direkt am Radweg, jede Menge Radler kämen alljährlich daran vorbei und er habe es eingerichtet, weil er eben Radler möge.

(B) Keckheit im Schädel, regennasse Lippen, Wolken hängen bis in die Wiesen und splitternackte, frisch geschorene Schafe wissen nicht so recht, wie ihnen geschieht. Im Windschatten vereinzelter Hecken kauernd. Ich könnte einen Aufsatz schreiben über Technik, lache ich: Der Pufferakku – Fluch oder Segen für die Menschheit. Nur so zum Trotz im Stil der guten alten Erörterung, wie wir es in der Schule gelernt haben:

  • A – Einleitung „Seit Menschengedenken ist ein technisches Gerät quasi als Gottheit unter den … bla bla bla und so weiter.
  • C Hauptteil (hier darf ich ja nicht B schreiben, sonst könnten gelangweilte Lesende einfach abhauen aus dem Text) die Widers zuerst, die Fürs zuletzt, weil ja der Pufferakku ein gutes Gerät ist, und das, wofür man Stellung bezieht am Ende stehen soll in der Erörterung.
  • D Schlusswort (Eigentlich C, aber B ist ja C, damit niemand abhauen kann aus dem Text. Hier nochmal die Erörterung zusammenfassen und mit voller Inbrunst dem Pufferakku huldigen.

(B) An dieser Stelle des live gebloggten Berichts soll Irgendlink erkennen, wie kompliziert es ist, eine Operation am offenen Herzen der Literatur durchzuführen – erste Zweifel, ob es eine gute Idee ist, solch einen Bericht in einem durchnässten Zelt zu tippen, Regenschauer im Nacken, umspült von Wind, schimmern durch:

„Nun sitze ich im Zelt neben dem Sportplatz von Neukirchen. Wieder in Deutschland, nach wie-vielen Wochen? Eine Dänin mit knallroter Regenjacke erklärt mir gestern den Weg , kurz hinter Højer, immer nach Süden sagt sie, und dass das Wetter ein bisschen besser sein könnte. Ich ackere noch anderthalb Stunden bis Neukirchen, zurück im deutschen Netz, telefoniere, SMSe, schicke Mails. Alles nass. Weiß nicht, ob es in England und Schottland je so schlimm war. Der Artikel geht mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf, alles in eins packen, war noch nie gut, ist aber ein Experiment wert. Nun schreibe ich seit einer knappen Stunde an dem Ding, springe von Ebene zu Ebene, meißele das, woran ich gestern intensiv gedacht habe, aus Worten. Schreiben ist wie Bildhauerei. Mir wird klar, dass Klausbernd recht hat, wenn er sagt, die Sache muss nachbearbeitet werden. Ich kann das gar nicht leisten, eine Idee direkt und ohne später noch einmal daran zu feilen, in die Tasten zu hacken. Ähnlich verhält es sich mit den Fotos. Die Bildtafeln, die bisher entstanden sind, haben schon rein technisch gesehen, eine Nacharbeit nötig. Die App, mit der ich die 16er Collage setze, spuckt nur 1600 Pixel breite Bilder aus. Möglich sind aber 6000 Pixel.

(B) Auch befinden sich sämtliche Nikonbilder noch ungesichtet auf Speicherkarte und die wenigsten Bilder überhaupt konnte ich per Datenautobahn direkt in die Homebase senden.

(B) An dieser Stelle verliert sich der Autor tatsächlich in unnützes Kunstgeschwafel und breitet seine halbphantastischen Ideen zum Liveschreiben aus. Eine Recherche durch eine Expertenkommission im Jahr 2235, kurz vor dem energetischen Kollaps ergab, dass Irgendlink offenbar etliche Zeilen des Originaltextes gelöscht hat und stattdessen diesem von Kritikern als „Das große Elend der Präenergetischen Liveschreibe“ bezeichneten „Machwerk, das gerne ein Manifest sein würde“, ein schlichtes Ende setzte mit (Sch)

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

16 Antworten auf „Das große Elend der präenergetischen Liveschreibe“

  1. Kunst sei, was als Kunst rezipiert werde, sagt Klausbernd in einem Kommentar vor ein paar Tagen. Irgendlinks Blog könne er als Kunstform nicht nachvollziehen. Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf wollen und meinen Widerstandgeist wecken. Ich sage: Ja, aber … Ja, denn ich kann die Gedanken nachvollziehen.

    Aber: Alles, was heute als Kunst rezipiert ist, war – wenn ich diese Aussage richtig verstehe – somit irgendwann „Nicht-Kunst“? Anders: Wird etwas erst durch die Anerkennung und Rezeption durch Wen-auch-immer zu Kunst? Okay, wo ist denn das Problem?

    Was heute noch nicht den Stempel Kunst trägt, trägt ihn (vielleicht) morgen. Ich denke an Van Gogh. Und andere. Es wird immer neue Kunst geben. Kunst, die belächelt wird. Die abgewertet wird. Die Ewiggestrigen und die Fortschrittlichen werden sich immer in die Haare geraten. Verschiedene Ansätze machen einen Dialog, der der Sache dient, nicht einfach.

    Ich plädiere noch immer oder erst recht für Relativismus. Gerade in der Kunst. Dass das populistischer Quatsch sei, ist die persönlich Meinung eines einzelnen und die lasse ich gelten. Jedem das Seine.

    Kunst wächst ständig über sich hinaus. Kunst ist Bewegung. Und sie bildet gleichsam die Bewegung innerhalb der Gesellschaft, in der sie entsteht, auf die eine oder andere Art ab (auch als Negativbild zum Beispiel). Sobald Kunst statisch wird und an bestimmten Medien kleben bleibt, stagniert die Gesellschaft um sie herum. Oder die Gesellschaft ist schon stagniert und darum wird die in ihr geschaffene Kunst sich nicht mehr entwickeln können. Huhn und Ei, ihr wisst schon.

    Die Kunstschaffenden einer jeweiligen Gesellschaft bedienen sich jeweils der Medien, die ihre Gesellschaft im Alltag verwendet. So wird heute das Internet als Medium für Kunstschaffen verwendet. Immer sind es zuerst Experimente, bevor sich eine Kunstform etabliert, um irgendwann, später, von anderen Medien abgelöst zu werden. Natürlich ist eine neues Medium – auch das Medium Internet – kein Garant für Qualität. Wie auch der Einsatz eines Dudens, eines Literaturlexikons, einer Palette hochwertiger Ölfarben keine Garantie ist für einen Bestseller oder ein Kunstwerk für den Louvre ist.

    Kunst setzt immer Hingabe, Herzblut, Verbissenheit voraus. Zeit auch. Stille. Reifen. Selbst das sind keine Garanten für Kunstwerke, doch ohne sie geht es kaum. Meine Meinung.

    Ob nun Irgendlinks Werk, die Operation am offenen Herzen der (Live-)Literatur, jetzt schon als Kunstwerk bezeichnet werden kann, will ich hier nicht diskutieren. Klar aber ist, dass dieses Kunstprojekt hier als Pilotprojekt einen Weg beschreitet, der den Namen Kunst zu Recht tragen darf (behaupte ich!). Ohne Abstriche. In seiner ganze Unfertigkeit. Was ist sagen will: Ich glaube, Kunst steht für sich und definiert sich laufend selbst, unabhängig davon, wer sie rezipiert.

    Noch eine Art PS: Wenn ein Rockmusik-Kritiker ein Volksmusik-Konzert rezensieren soll, wird er vermutlich wenig aussagekräftiges zustande bringen und sogar eher das Event in der Luft zerreissen. Ebenso kann eine Klassik-Kritikerin wohl an einem Rock-Open Air wenig erbauliches entdecken. Es braucht eben auch immer eine Art Hingabe und Affinität der Kunst-Konsumierenden an die jeweilige Kunstrichtung. Ich kann nicht jeden Bestseller gut finden, selbst wenn ihn alle rühmen und er vielleicht sogar gut geschrieben ist, einfach weil mich das Thema nicht anspricht.

    Dies sind ein paar Gedanken einer durchschnittlich gebildeten Bloggerin ohne akademische Titel, die sich schwertut mit elitärem Zöix. Ich kann leider nicht so gut argumentieren, wie das andere hier können. Ich hoffe, meine Gedanken werden einfach als Ergänzung zur laufenden Diskussion verstanden.

    Liebe Grüsse an alle, froh darüber, dass hier so spannende Gespräche stattfinden können.
    Soso

  2. Lieber Irgendlink!

    Atemloses Lesen und mit dir radeln und velosophieren… ein großartiger Text! Schade, dass Regentage so nass sein müssen, bei all der Fruchtbarkeit ;)
    …und ja, was da noch für Fotos zu sehen sein werden! Da trägst du wohl ein Schatzkästlein mit dir herum…
    Außerdem… war es wohl nie eine Frage um die Nachbereitung herum, oderrr?!

    Weiteres atemloses Lesen von Sosos Kommentar… „Kunst setzt immer Hingabe, Herzblut, Verbissenheit voraus. Zeit auch. Stille. Reifen.“
    ich würde zwar „Verbissenheit“ in Besessenheit wandeln, aber ansonsten ist es genau dieser Satz, der in mir ein JA auslöst.
    Schwer tue ich mich mit der Selbstbezeichnung von „durchschnittlich gebildeter Bloggerin“ – jede und jeder in ihrer und seiner Qualität, oderrrr…?!
    Gestern las ich bei dir Dürrenmatt und ich finde, besser kann man es doch eigentlich kaum sagen wie es mit der Kunst, dem Schaffen sein sollte…
    für die, die es noch nicht kennen: http://sofasophia.wordpress.com/2012/06/24/gody-wer-immer-du-bist/

    liebgrüßt euch Frau Blau

  3. Mit elitären Zoix (übrigens ein herrliches Wortgebilde), fange ich auch wenig an, deshalb schreibe ich auch was mir grad zum Thema Kunst so durch den Kopf geht.

    Ist es nicht so, dass das Wort Kunst im Grunde nur eine leere Worthülse ist, die jeder mit seinen eigenen Vorstellungen von Kunst füllt? Ist es Kunst, wenn jemand hergeht und auf den Straßen festgeklebte Kaugummis bemalt? Ist es Kunst, wenn ich ein Foto nehme, es mit digitalen Möglichkeiten verändere bis etwas Neues entsteht? Es könnte schließlich jeder, aber – es tut eben nicht jeder. Und dann gibt es da auf der anderen Seite Menschen die sagen: Das ist toll, das gefällt mir, für mich ist das Kunst! und andere die nämlich sagen: So ein Quatsch – wozu soll das gut sein?

    Kunst ist letzendlich doch das Produkt eines kreativen Prozesses oder sogar der Prozess selber. Wertung und Bewertung kommt von außen. Wenn mit dem kreativen Tun ein Zeitgeist getroffen wurde, dann ist es für viele Kunst, für andere vielleicht nur Gekritzel. Manchmal ist eine Kunstform auch der Zeit voraus und wird erst später als Kunst anerkannt.

    Wenn ich „Kunst schaffe“, was immer jeder Einzelne nun darunter verstehen mag, tu ich das doch in erster Linie für mich, um meine Kreativität auszuleben und nicht zur Erbauung von anderen. Wenn es aber die Folge ist, dass andere meine Schöpfungen mögen und wenn es dann vielleicht auch noch viele sind, bin ich dann erst ein Künstler? Oder darf ich den Begriff Künstler schon vorher für mich in Anspruch nehmen?

    Die Kunst ist frei und sogar per Gesetz im Grundrecht als freie Kunst verankert. Ebenso frei ist aber auch jeder etwas für Kunst zu halten oder auch nicht.

    Warten wir doch mal ab was aus diesem Pilotprojekt wird … noch ist es im Enstehungsprozess und darf mit Fug und Recht für sich Beanspruchen völlig ungeschliffen daher zu kommen. Aber auch ungeschliffene Edelsteine haben ihren Reiz. ;-)

    In diesem Sinne, liebe Grüße, Szintilla

  4. Liebe Soso, lieber Irgendlink,

    guten Morgen! Jetzt ist hier richtig etwas los, das finde ich toll! Sorry, wenn dieser Typ da weltfern in seinem kleinen Dorf am Meer zu intellktuell herüber kommt, aber so ist er halt, der Master (Anmerkung der Buchfeen Siri & Selma: Diese milde intellktuelle Distanz, jene elitäre Thomas-Mann`sche Attitude, regt uns auch bisweilen höllisch auf, aber Masterchen meint`s nicht so. Das ist seine professionelle Deformation ;-) ).
    Zuerst, Ladies first, antworte ich dir, liebe Soso. Einer der führenden Forscher z.Zt., der sich damit beschäftigt, was Kreativität und Kunst ist, ist ein Mann mit dem fürchterlich schwierigen Namen Mihaly Csikszentmihalyi, der wie du van Gogh als Beispiel anführt. Für ihn wurde van Gogh erst zum Künstler nach seinem Tod, als er anerkannt wurde. Sinnlicher für meinen Geschmack hat es Andy Warhol deutlich gemacht: Seine Cambpell Suppendose im Supermarkt ist keine Kunst, wird sie jedoch im Museum (oder einer Gallerie) gezeigt, ist sie Kunst – eben durch den Rezeptionszusammenhang. Ich kann mir nicht verkneifen, kurz Intellektuelles anzuführen: Was ein Künsttler wie Irgendlink schafft, pflegt man in der Kunsttheorie ein Artefakt zu nennen. Dieses Artefakt ist einzig Privatangelegenheit des Künstler, erst durch die Rezipienten wird es zu einem ästhetischen Objekt, d.h. der Rezipient (in der Abhängigkeit von seiner Erfahrungshorrizont) entscheidet darüber, ob etwas Kunst ist oder nicht. Eigentlich doch ganz einfach und einsehbar – oder? Das ist jetzt wirklich nicht zynisch böse gemeint, aber wie viel Herzblut und Anstrengung der Künstler investiert hat, ist kein Kriterium für Kunst.
    War das wieder zu intellektuell? Aber man muss doch nicht seinen Intellekt an der Garderobe angeben, wenn man den Blog betritt.
    Und zu dir, lieber Irgendlink, Hut ab, ich finde, du hast mit noch mehr Format auf die Kritik geantwortet, als ich gehofft hatte. Ja, ich finde es richtig überzeugend, wie in Form & Inhalt du reagiertest. Außerdem ist mit einem Mal dein Blog – für mich zumindest – viel, viel spannender geworden. Aus Sosos Kommentar wurde mir deutlich, dass ich eher ein untypischer Rezipient deines Blogs bin, aber ich las Blog & Kommentare heute Morgen trotz größter Zeitknappheit mit Vergnügen und da fragen mich doch glatt Siri & Selma: „Musst du eigentlich immer deinen Senf dazugeben, du alter Narziss?“
    Wie dem auch sei und Kunst hin oder her, ich fühl mich jetzt viel wohler hier. Und warum? Weil ich das Gefühl habe, wir ringen hier (naja, oder spielen hier) mit etwas, das zu einer echten Kommunikation wird. Das ist so ähnlich wie Dinas Idee (auf dem Blog , dass durch echten Austausch unter gleichgesinnten Bloggern etwas gemeinsam entsteht. Ist es nicht wie in einer Paarbeziehung, wenn das Unbehagen ausgesprochen wird, entsteht mehr Klarheit?
    So, jetzt muss ich aber geschwind nach Norwich, the fine city, fahren (nicht per Rad, sondern mit dem Volvo ;-) ).
    Liebe Grüße an alle
    von Klausbernd und den Buchfeen Siri & Selma :-) :-) :-)

    1. lieber klausbernd
      zynismus habe ich dir nie unterstellt, sorry, wenn du das so verstanden hast. und auch das mit den rezipienten habe ich schon von anfang an verstanden. nur sehe ich es nicht ganz gleich. hm, oder doch. auch. :-)
      wichtig ist mir klarzustellen, dass ich nicht denke, dass herzblut und dergleichen kunst garantieren. ich sage nur: ohne die gehts nicht. und davon bin ich total überzeugt.

      danke für das cambpell-beispiel. ja, es ist eigentlich wirklich ideal. jürgen füllt dosen. :-) mjam. mal clown, mal dies, mal das … *zwinker*

      liebe frau blau, liebe szintilla
      mir gehts wie klausbernd, ich finde es belebend, wie wir hier diskutieren können.

      liebe grüsse nach norfolk, in den schwarzen wald, nach schleswig-holstein und wo immer ihr alle grad seid

      EDIT: theorie ist dazu da, praxis zu ermöglichen/zu stabilisieren – aber ohne praxis, für sich allein, kann theorie nicht sein. einfach noch so ein gedanke. und intellekt ohne emotion ist furztrocken, und emotion ohne intellekt vermutlich ziemlich anstregend – schön, dass sich hier beides trifft. :-)

  5. Lieber Irgendlink,ich finde,es richtig toll, wie du die Themen ansprichst,1:0 für dich!
    Dein Konzept,Artist in Motion habe ich nie in Frage gestellt, das Gesamtkonzept zählt und ob ich es heute ganz verstehe, ist vielleicht weniger relevant. Du bist vor deiner Zeit, wie viele Pioneere.
    Und Kunst will nicht unbedingt verstanden werden, sondern mit den Rezipienten in einen Dialog treten.

    Sorry, das nur ganz kurz, mein Notebook hat den Geist aufgegeben :-( und ich schreibe auf einem Fremdrechner, alltägliche Probleme die bewältigt werden müssen, die du unterwegs viel realer,schwerwiegender erlebt hast.
    Liebe Grüße
    Dina

  6. Liebe Frau Blau und liebe Szintilla,
    oh, ich hab noch etwas mir Wichtiges vergessen: Kunst ist für mich keineswegs eine leere Worthülse. Es ist sooo blöd, ich kann`s nur intellektuell ausdrücken: Kunst ist ein Strukturmerkmal. Ich weiß, jetzt fasst ihr euch am Kopf und lest womöglich nicht mehr weiter. Aber schaut doch den Satz „draußen regnet es“ – wird er im normalen Alltagszusammenhang gebraucht, schaut ihr aus dem Fenster und könnt sehen, ob es stimmt oder nicht. Jetzt kommt der Satz aber in einem Kunstwerk vor, da ist es doch schnurzpiepe, ob es nun gerade regnet oder die Sonne scheint. Z.B. bei einem Gedicht kommt es darauf an, ob es ein Refrain ist, einen Reim bildet, bei der Prosa mehr auf Rhythmus, Spannungsbögen etc. Damit will ich sagen, Kunst ist selbstbezüglich, sie schafft eine eigene Welt, die dann als Ganzes auf die Wirklichkeit hin bezogen wird. Kurzum Kunst schafft eigene Welten – wie nun der Künstler ist, ob er oder sie sich abgerackert hat, in romantischer Attitude litt und ob`s ihm einfach zugefallen ist, das ist für das Kunstwerk völlig unerheblich. Für Kunst sind für mich 2 Fragen wichtig:
    1. Ist das Kunstwerk in sich stimmig (Form & Inhalt etc.)
    2. öffnet es mir die Augen für eine neue Sicht der Welt
    Die Produktionsbedingungen der Kunst mögen zwar das Kunstwerk beeinflussen, sie sagen aber gar nichts über die Qualität von Kunst aus. Das ist so meine Sicht.
    Liebe Grüße euch beiden aus Cley next the sea
    Klausbernd
    Das ist mir übrigens erst richtig klar geworden durch die Diskussionen um den den Beitrag über Knut Hamsun meinen Blog – Hamsun war bis zu seinem Tode überzeugter Faschist, aber selbst die sozialistischten Künstler und Kritiker Norwegen sind sich einig darüber, dass Hamsun Großes geschaffen hat (für mich ein Vorläufer von James Joyce). „Man muss zwischen dem Menschen Hamsun und seinem Werk unterscheiden“ heißt es – und trifft das nicht für jedes Kunstwerk und jeden Künstler zu?

  7. Jetzt komme ich wohl nicht so bald Norwich, aber es ist soooooooooo spannend hier.
    Liebe Soso, du hast völlig recht und es toll auf den Punkt gebracht:
    Intellektualität ohne Emotion ist furztrocken, Emotionalität ohne Intellekt ist fürchterlich anstrengend – GENAU! Und so ergänzen wir uns hier, dass jeder vom anderen lernt.
    Danke.
    Tschüß
    Ich muss jetzt weg, alle meine Gäste schreien nach mir.
    Liebe Grüße
    Klausbernd

  8. @klausbernd

    Zitat:
    1. Ist das Kunstwerk in sich stimmig (Form & Inhalt etc.)
    2. öffnet es mir die Augen für eine neue Sicht der Welt

    Sag ich doch, nur nicht so „umständlich“. ;-) Kunst bewertet jeder in erster Linie für sich allein. Mag sein, dass es in der Kunstszene allgemeingültige Bewertungen gibt, wie: Ein bestimmter Pinselstrich ist Kunst, das Herausarbeiten eines Licht/Schatteneffekts bei einem Ölbild, der Faltenwurf – was weiß ich. Aber muss ich deshalb ein künstlerisch hochwertiges Bild für Kunst halten, wenn es mir zu düster, zu abstrakt ist? Es rührt sich doch dann nichts in mir.

    Kunst ist für mich, wenn mich etwas anspricht, in mir etwas auslöst, ich mich damit auseinandersetze.

    Aber ich bin auch ein absoluter Kunstbanause, besser eine Kunstbanausin.

    Und ja, es ist richtig spannend, dabei müsste ich jetzt dringend arbeiten. :-)

  9. so lande ich nun wieder hier und schließe damit meine heutige runde durch bloghausen.

    bei all den vielen Worten spricht mich das „1. und2.“ von Klaus Bernd an-
    ja, ein Bild, eine Skulptur, ein Film, Musik und alles was unter den Begriff Kunst fällt, muss „etwas“ mit mir machen, dafür braucht es noch nicht einmal unbedingt das In -sich- geschlossene. Wenn etwas eine Öffnung lässt, bleibt da der Raum fürs Eigene…

    Es gibt die Einen, die sagen: „DAS ist Kunst und damit tausend Bücher füllen, Definitionen finden und ihnen zum Gefallen der Öffentlichkeit hinhalten, mit der linken Hand, in der rechten eine Gun. „Wehe“, sagt sie, „wenn du mir widersprichst!“ So kommt es doch, dass ein van Gogh bald verhungerte, hätte er nicht seinen Bruder gehabt! So kommt es doch, dass selbst ein Gerhard Richter die erzielten Preise für seine Bilder für absurd hält. So kam es doch, dass Beuys ermutuigte, dass jede und Jeder einE KünstlerIn sei.
    Der Liebste sagte letztens: Kunst hat ein Konzept, eine Idee und dann folgt die Umsetzung, wie es dann bewertet wird, steht wieder auf einem anderen Blatt und von wem…“
    Ich selbst tanze Zurzeit hiermit und seitdem ist es ein Fließen geworden, vollkommen frei von Zensur und Bewertungen:

    „…und alle Vergleiche verbannen. Ob bildung oder nicht, ob manche grandios sind oder nicht, Jede und Jeder in ihrer und seiner Qualität. Zur Freude.
    Ja, zur Freude. Okay, auch für die Nachdenklichkeit, die Berührung. Ja, all das auch und mehr, aber Jede und Jeder für sich, mit sich, mit seinen/ihren Augen, seinem/ihren Wissen, Empfinden, seinem/ihrem Lied und Tanz. Nur dadurch wird das Leben bunt!

    Freigeben… sich selbst und die eigene Kreativität- Sie in den Raum stellen und schaue was passiert. Ein wahrlich spannendes Abenteuer!

    und wahrlich ein spannender Blog ;)

  10. Zum Glück liegt der Kunstbub nicht besoffen in irgendeinem deutsch-dänischen Straßengraben, mit dem letzten Stinkefinger winkend….
    sondern griff einmal mehr in seine literarischen Ressourcenköfferchen, die roten….
    Gruß von Sonja

  11. Oh! Den Text finde ich gar wundervoll!

    Und die Kommentare erst … aber alles muß bis morgen warten, da ich heute eine lange (Ende unbestimmt) Schicht im Radiostudio zu bewerkstelligen habe.

    1. Wow. Schon spät kurz vorm in den Schlafsack kriechen, lese ich den Kommentarstrang. Ihr seid die Wucht. Ganz lieben Dank für Eure regen Beiträge, die stimulierenden Gedanken und Ideen.
      Mir gaukelt noch ein Satz von meinem Freund Journalist F. im Kopf, wonach der künstlerische Erfolg zu – ich weiß die Zahlen nicht mehr genau – nur 20 Prozent der Arbeitszeit am Kunstwerk selbst erzielt wird. Der Rest ist Netzwerken, Kommunikation usw. Auch die Qualität spielt nicht die herausragendste Rolle. Ich hau mich nun aufs Ohr und schließe Euch in mein Nachtgebet ein.

      Gute Nacht Johnboy :-)

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