Kumulierte Belichtungszeit vor Edinburgh Casle

„Relax with a tankard of ale by the fire in a pub and try the drover’s own beer.“ (Aus : Visit Scotland – What to see and what to do 2012-13, Perthshire, Angus & Dundee)

Weit jenseits der schottischen Grenze kurbele ich durch ein ganz und gar nicht schottisch anmutendes Gebiet, kahles Hügelland, menschenleere Vorstadt, schicke Neubauten, die ein bisschen an die kleine Stadt Pajala an der schwedisch-finnischen Grenze erinnern. Hinter Betonmauern verbergen sich ferngeheizte Mietwohnungen, im Keller eine Gemeinschaftssauna, Shop an der Tankstelle, so erlebt auf dem Kapschnitt zusammen mit Freund QQlka 1995.

Das Gebiet um Dunfermline erinnert ein bisschen daran. Ich habe Edinburgh über wenig bis mäßig befahrene Stadtstraßen verlassen. Das geplante Sightseeing bis zum Nachmittag ist etwas dürftig ausgefallen, weil ich mich mit den Leuten von Haggis nicht über die Gepäckaufbewahrungsgebühr einigen konnte. 2 Pfund pro Stück hätten sie verlangt, was inclusive Rad 14 Pfund bedeutet hätte. Dafür hätte es sogar schon eine Nacht in der billigsten Absteige der Stadt gegeben. Wir feilschen und wären uns bei 6 Pfund einig geworden. Für drei bis vier Stunden wertlose Dinge irgendwo rumliegen lassen? Meine Sturheit. Es geht ja gar nicht ums Geld. Wifi für 3 Pfund am Tag. Fletcheresque!

Außer den Wunderwerken an Duschen und, ach ja, jemand hatte auch die Matratzen des Haggis gepriesen als Technik, die dem 25ten Jahrhundert entspräche, hat das Haggis nichts zu bieten. Ich hoffe, dieser Bericht landet nicht im großen Ordner mit den lobhudelnden, jugendhostelverherrlichenden Propangandamaterialien, die sie im Leseraum horten.

Mit gepacktem Fahrrad morgendliches Edinburgh im Schnelldurchgang. Ich setze die Stadt auf meine Liste der zu fotografierenden Städte dieser Welt, weil sie so wunderbare Artefakte, Details, dreistellige Hausnummern etc. vorhält. Architektur opulentest. Humes-Denkmal, drei Telefonzellen, Spiegelkabinett, zwei Telefonzellen, zwischen die sich japanische Touristen quetschen und sich von Freunden fotografieren lassen, Schottenrockläden, Tand. Containerweise werden im Hafen billig produzierte original schottische Plastik-Souvenirs, Dudelsäcke, Dosen voller Haggis, Whiskyflaschenhalsbändchen, Röcke, Röcke, Röcke angeliefert. Eine „echte“ Wolldecke, die in China für 10 Cent produziert wird, kostet im Laden 10 Pfund. Ein Fotograf mit einem solllllchen Objektiv wartet vor dem Castle auf das richtige Licht. Immer wieder peilt er mit dem Daumen, während um ihn ein Gewusel aus immer gleich ablaufenden Stell-dich-mal-vors-Schloss,-ich-mach-mal-ein-Bildchens abläuft. Wenn man alle 100stel Sekunden, die pro Stunde vor dem Schloss ein Bild belichtet wird zusammenrechnet, wie lange wäre dann die kumulierte Belichtungszeit in einer durchschnittlichen Stunde vor dem Edinburgh Castle an einem Freitagmorgen im Mai.

Kojanis Kazi (weiß nicht, wie man das richtig schreibt), jener 70er-Jahre-Film*, der so intensiv mit Zeitraffern und Zeitlupe arbeitet, kommt mir in den Sinn. Als ich etliche 100stel Sekunden Schloss mit dem iPhone belichtet habe, steht mein wachsamer Fotograf mit dem riesigen Objektiv noch immer bewegungslos mit dem Daumen peilend vor dem Schloss. Ich mache Selbstportraits vor den Lock-Spiegeln, die sie in die Mauern des Spiegelkabinetts eingelassen haben, komme zu dem Schluss, das ganze Leben ist ein Zerrbild. Je nachdem, wie du es betrachtest, längt sich das eine Element, kürzt sich das andere, winden sich wieder andere, schränken, quirlen, sprialisieren, dehnen und zwängen sich unsere Sichtweisen. Vielleicht funktionieren andere Menschen wie Spiegel. Individuelle Oberfläche – individuelle Projektion der Erlebnisse.

Edinburgh mit dem Fahrrad verlassen, darüber wollte ich schreiben: die Radwegbeschilderung ist lückenhaft. Ohne GPS-Track auf dem iPhone wäre ich aufgeschmissen. Am westlichen Stadtrand gibt es für ein paar Meilen einen Bahntrassenradweg, der erstaunlich gut geteert ist. Wie im übrigen mir die Straßen Schottlands etwas besser vorkommen, als die englischen. Ab Cramond beginnt das Straßengemetzel, das über Queensferry und die M90 Autobahnbrücke bis hinter Dunfermline anhält. Es gibt zwar Radwege, aber es macht keinen Spaß, direkt neben der Autobahn zu fahren. Die Autobahnbrücke vibriert ohne Ende, so stark rütteln die Schwerlaster an der Hängebrücke. Prima Aussicht auf die Eisenbahnbrücke, die einen halben Kilometer westlich den Forth of Firth oder den Firth of Forth überspannt. Jene imposante Stahlkonstruktion.

Ab dem Haus-See oberhalb von Dunfermline bei Townhill wird es ruhiger. Bei eisigem Nordwind stets berghoch. Ein Wanderer mutmaßt, dass es im Norden sogar schneien könnte, so kalt sei es. Um die Steigung bin ich froh. Sie wärmt. Die Sonne setzt sich nachmittags durch. Menschenleere Gegend, Kiefern, Tannen und Lärchen oder heißt es Lerchen – gemeint ist der Baum. Gegen 18 Uhr beschleicht mich der Gedanke, dass ich vielleicht wild zelten muss, so menschenleer ist es hier. Plätze gäbe es genug. Zwar sind die Weiden hier auch eingezäunt, aber im Gegensatz zum englischen Zaun, der die Aufgabe hat, etwas, das von außen kommt, zu hindern, reinzukommen, ist der schottische Zaun einer, der verhindert, dass etwas, das drinnen ist, raus kann. Kleine Zaunphilosophie berghoch. Was bedeutet das im übertragenen Sinn für den menschlichen Charakter? Wir alle müssen uns ja gegen unsere Umwelt abgrenzen. Somit sind wir alle von imaginären, selbst geschusterten Zäunen umgeben. Welche Aufgabe haben die? Natürlich müssen sie beides können: das Böse von außen abhalten, das geheime von innen nicht sichtbar werden lassen. Die hochtechnische Membran meiner familienhausteuren gelben Regenjacke kommt mir in den Sinn. Sie hält den Regen ab, lässt aber Dampf hinaus. Sie hält den Wind ab. Das ist an diesem 38. Reisetag besonders wichtig.

Ich klettere immer weiter berghoch, meist im drittten bis ersten Gang, obwohl die Steigung kaum nach Steigung aussieht und das ist besonders fies. Kinross ist lange Zeit mit 11 Meilen ausgeschildert, dann mit 12 Meilen, dann mit 9, 8 und so weiter. Auf Entfernungsangaben, insbesondere auf Radwegschildern kann man nicht zählen. Bösen Stimmen zufolge liegt im Hafen von Edinburgh ein Containerschiff mit 12 Meilen bis da und dort Schildern, die man für einen Spottpreis in Hongkong gekauft hat. Das könnte erklären, warum in der Enternung von 15 bis 10 Meilen bis wo auch immer sich die 12 Meilen Schilder häufen. I’m kidding.

Ab dem Loch Glow geht es wieder abwärts. Rasant. Straßenbreite 2,50 Meter, was bedeutet, dass ich sogar als Radler an den Ausweichstellen stoppen muss, wenn mal jemand mit dem Auto entgegen kommt. Kinross gegen 20 Uhr. Laden mit langen Unterhosen schon zu. Wolldeckenladen nicht gefunden. Im Store gibt es nur Lebensmittel. Ich frage mich zum Campingplatz durch. Gallowhill Farm ist phantastisch. Fühlt sich skandinavisch an. Auch das Licht stimmt. Lange gleißende Sonne, durchsetzt von einem kleinen Schneeschauer. In einem Restaurant hatte man mir die Visit Scotland-Prospekte in die Hand gedrückt, hoch glänzend, die sich vor allem dem Thema Golf widmen. In Einzelseiten zerlegt und zerknüllt, stopfe ich mir das Teil unter die Jacke. Wärmt fast so gut wie die Gartennews.

Nun habe ich meinen ersten Sonnenaufgang erlebt. Schon um sechs Uhr etwa. Strahlend blauer Himmel.

Der Raureif ist mittlerweile weg getaut. So könnte es meinetwegen für den Rest der Reise bleiben. Kalt, aber ehrlich. Ich muss nur noch einen Lange Unterhosen-Laden finden.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

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* Koyaanisqatsi, 1982. Link zu Infos bei Wikipedia: hier klicken.

10 Antworten auf „Kumulierte Belichtungszeit vor Edinburgh Casle“

  1. Den Kommentar wollte ich unter einen anderen Beitrag schreiben, aber Du bist so schnell, dass dieser schon weit abgeschlagen zurückliegt.
    Erinnerst Du Dich noch, dass Du das geprochene Englisch, als Du frisch auf der Insel angelangt warst, kaum verstanden hast? Ganz anders als im Internet sprächen die hier, sagtest Du sinngemäß.
    Inzwischen scheint dir nicht nur das Westküstenenglisch vertraut, sondern auch das Unerwartete. England ist ganz anders ist als der Kontinent und Schottland ganz anders als England und im selben Ort können die gegensätzlichsten Menschen Gasthäuser betreiben. Und mit dem schottischen Akzent scheintst Du gar keine Probleme zu haben?

    Mehr von dieser warmen Farbe am Himmel für die nächste Zeit wünsche ich Dir und freue mich auf Mehr von Dir zum Lesen, Sehen, Denken…

  2. Selbstlektorat: das „geprochene“ Englisch bitte durch „gesprochenes“ ersetzen…
    Statt „Westküsteneglisch“ bitte „Ostküstenenglisch“ lesen.

    (Drückt einfach immer zu schnell auf „abschicken“, die ff)

  3. Als ich gestern die Karte sah, den Streckenverlauf, dachte ich schon: das sieht weniger dicht besiedelt aus. Das ist sicher einerseits schön, aber andererseits bringt das wieder andere Herausforderungen mit sich: Unterkunft, Verpflegung. Dann wünsch ich dir mal weiterhin gute Reise und warme Unterhosen ;-)
    (Hier ist es auch wieder ‚kalt‘ – natürlich nichts im Vergleich zu Schottland.)
    April

  4. … Ich möchte auch wieder ein Zelt haben – und eine Isomatte und einen Schlafsack … Die nächsten beiden Geburtstage und Weihnachten dazwischen sind ausgewünscht.

    Okay. Mut brauch ich noch dazu, aber wenn das so weitergeht, tanke ich davon genug bei Dir und Deinem Nachfolger auf.

    Noch viele so sonnige Tage wünsch ich Dir.

  5. Seideninnenschlafsack und lange Unterhose, da kannst du ja jetzt getrost alle Hochglanzzeitschriften liegen lassen ;o) meinen Glückwunsch – dazu dein Satz: kalt, aber ehrlich…
    Touristen vor den Sehenswürdigkeiten einer Stadt irgendwo in der Welt… ich hatte mal die Idee einen Aufruf in die Welt hinein zu schicken, alle Touris von St. Goarshausen sollten mir ihre Fotos von sich vor dem Fass im Minirheinuferpark schicken und ich mache eine Riesenwand daraus… das lässt sich wohl auf alle möglichen Flecken Erde übertragen, nur gemacht, habe ich es immer noch nicht…
    wie immer freue ich mich auf deine Fortsetzung und wünsche dir viel freies Land, ohne Zäune
    herzlichst Li Ssi

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