Vieles geschieht nicht

Offenes Atelier ist vorbei. Nur 60 Prozent dessen, was ich tun wollte auch getan. Schlampige Organisation, keine Presseinfos verschickt und so gut wie keine Einladungen; paar Mails, das wars. Für die Organisation hätte ich in Schulnoten eine glatte 6 verdient.

Umso erstaunlicher der Erfolg – glückliche Zufälle, gut Presse und auch etliche Gäste (in dieser Gegend funktioniert die Mundpropaganda noch). Anstrengend war es ohnehin, es kostete die Septemberwochenenden.

Nun mutiere ich in der Tackerwerkstatt zum LKW-Fahrer, was mir nicht recht ist. Ich komme nicht mehr zum Möbel-bauen. Morgen 4Uhr-obszön-früh Möbel nach Strasbourg..Samstagnacht, man munkelt, es könne 4 Uhr werden, wieder zurück. Was für ein widerwärtiger Tag. Das größte Problem: ich kann nicht schlafen, wenn ich um 4 Uhr aufstehen muss.

Ich hocke hier

und blogge vier

Zeilen und paar mehr

Ouhshallala.

Gelingt mir ein Gedicht.

Ich war schon mal mehr Goethe, muss ich sagen.

In den wenigen ruhigen Minuten heute mit Kollege T. über den Jakobsweg schwadroniert und geliebäugelt, am 18 November loszulaufen. Muss vier Monate Überstunden loswerden (liebe Sofasophia, es dauert nur 31 Tage, den Rest der 4 Monate verbringen wir gemeinsam). Camino soll gut sein im Winter. Da laufen nur Spinner, mutmaßte T. Typen wie ich.

Wasnoch? Achja: weiß nicht, was mich geritten hat, aber ich hab einen Malkurs begonnen (autodidaktisch). Wohl inspiriert durch Marc Kuhn, der mich in seinen Col-Art Malaktionen immer wieder zum Malen verleitet. Aber ich weiß ja nichts von der Materie. Also habe ich eine Leinwand in 64 Felder aufgeteilt und habe geübt, Farben zu mischen, Flächen auf verschiedene Weisen anzulegen, auch das ein oder andere Motiv schon gekritzelt. Heute gelernt: spare nicht an Farbe, wenn du größere Flächen grundierst.

Allsolches Zeugs hier auf dem regnerischen einsamen Gehöft. Wenn die widerwärtige Strasbourg-Tour nicht wäre …

Morgen nehme ich die Nikon mit. Wenn die Schönschniegeltypen in ihrem Hotel auf den Loungemöbeln, die ich liefere, feiern, kann ich vielleicht ein paar Straßenszenen knipsen.

Das Übungsbild, Titel „Ü1“

Lehre für Literaturspezialist I.

„Was schenken wir denn Literaturspezialist I. zum Geburtstag?“ frag ich gestern QQlka. „Ömmm … weiß nicht … ne Mütze?“ „Wieso Mütze? Die lässt er doch wieso irgendwo liegen.“ „Macht nix. Dann lernt er daraus etwas.“ „Was denn?“ „Dass alles vergänglich ist und man sich an nichts klammern soll, auch nicht an eine Mütze. Schenken wir ihm noch nen Schirm dazu, dann hat er noch was, wenn er die Mütze verliert.“ „Aaach, den lässt er doch auch irgendwo innem Schirmständer stehn.“ „Optimal. Du weißt ja wie vergesslich er ist. Da kanner sich die Sache mit dem Vergänglichen so richtig draufschaffen.“

Liveblog Jakobsweg 2010 – ein Vorwort

— Dieser Artikel wurde geschrieben am 18. März 2011 als Einleitung zu den folgenden, im November und Dezember 2010 live vom Jakobsweg per iPhone verfassten Blogartikeln —

Die Kategorie Jakobsweg des Irgendlink-Blogs beschreibt meine Wanderung auf dem Jakobsweg in Nordspanien im November/Dezember 2010. Eine 35 Tage lange Reise von Saint Jean Pied de Port an der Pyrenäen-Nordseite bis nach Santiago de Compostela.

Einige Einträge im Vorfeld beschäftigen sich mit der Schwierigkeit, überhaupt loszulaufen. Eilige Interessierte mögen bitte hier (Zugfahrt durch Frankreich nach Saint Jean, 18. November 2010) weiter lesen, um direkt in die live gebloggte Geschichte einzusteigen.

Ausgestattet mit einem iPhone, welches den Zugang zum Internet zu jeder Zeit und an jedem Ort ermöglichte, wollte ich täglich in diesem Blog mit einem Bild und einer kurzen Text-Zeile über den langen Wanderweg zu berichten. Schon am ersten Tag nahm der Plan eine ganz andere Wendung. Das Texten auf dem iPhone hatte ich seit März 2010 exerziert. Die winzige glatte Oberfläche ist nicht leicht zu beherrschen und man braucht viel Geduld, um dem Kleintcomputer längere Texte abzutrotzen. Daher wollte ich in Bildern sprechen.

Auf der Anreise im TGV durch Frankreich dämmerte mir, dass ich weit mehr schreiben kann auf dem Touchscreen, als ich mir je vorgestellt hatte. Es ist nur eine Frage der Ruhe. In Druckform würde das folgende, live geschriebene Dokument der Pilgerreise etwa 200 Seiten umfassen. Obendrein kamen mir die vielen, live mitlesenden und kommentierenden Blogkolleginnen zur Hilfe, übernahmen Teile der Recherche, der Redaktion gar. Ihnen möchte ich an dieser Stelle noch einmal herzlich danken. Ganz besonderer Dank gilt Sofasophia, die das Projekt von zu Hause redaktionell zartfühlend begleitete und als Co-Administratorin die Blogsoftware immer im Auge behalten hat.

Meine Arbeitsweise war ebenso abenteuerlich wie besonnen: meist nachts, wenn ich in den Massenlagern der Pilgerherbergen nicht schlafen konnte, tippte ich meine Blogeinträge, bearbeitete Bilder. Je nach Länge habe ich für einen Blogartikel bis zu zwei Stunden gebraucht. Eine zusammenhängende Geschichte drängte sich mir vom ersten Tag an auf. Ich schrieb an zugigen Ecken in Pamplona, auf staubigen Wegen gehend in der Meseta, in einsamen Bars mit WLAN, vor Kirchen bei Minus zehn Grad. Überall, wo sich mir eine Idee, ein gutes Wort oder ein Satzfetzen auftat, notierte ich ihn mit aller Sorgfalt und wenn mein Kopf vor Kretivität nur so überquoll und mit dem Schreiben kein Nachkommen war, sprach ich meine Ideen auf das digitale Diktiergerät des iPhones.

Das iDogma war geboren.

iDogma ist jedes Bild, jeder Text, jeder Film und jede Tonaufnahme, die mit dem iPhone kreiert und mit dessen Apps veröffentlicht worden ist.

iDogma-Kunst ist die einzige Kunst, die das künstlerische Hirn verlässt ohne auch nur einmal in den Händen der Künstlerin oder des Künstlers gewesen zu sein.

Mit dem vorliegenden Rohdokument ist innerhalb von knapp fünf Wochen auf der entberhungsreichen Wanderschaft in Nordspanien das womöglich erste Buch, das auf einem Smartphone geschrieben wurde, entstanden. Kommentatorinnen haben mir versichert, dass es „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling nur im rechtschreiberischen Sinne nachsteht. Denn: ein signifikantes Merkmal von iDogma-Texten sind markante Tippfehler – man kann einen Text, der auf dem iPhone geschrieben wurde ganz klar an seinem Tippfehler-Muster erkennen. An den folgenden Blogartikeln habe ich nichts verändert. Mit dem letzten Tipp auf dem Touchscreen, kurz vor Weihnachten 2010, war für mich das Projekt Liveblog vom Jakobsweg abgeschlossen.

Zur Zeit arbeite ich an einer Druckversion des Buches mit unveröffentlichtem Bildmaterial und Abschriften der Audionotizen.

Hier klicken zum direkten Einstieg, oder weiter lesen mit der Pilger-Vorgeschichte (Testwandern, Zweifel, Angst, pi, pa und po). Unter den Einzelartikeln wird eine Navigation angezeigt, mit der man vor oder zurück blättern kann.

Ich und der Tod

Mittwoch. Schnellwegda-wegda-wegda – wir haben keine Zeit. Die Tackerwerkstatt ist wie ein Ameisenhaufen. Last-Minute-Management ist ein Teil der Firmenkultur. Kollege T. drückt mir den FirmenLKW in die Hand: „Für dich. Fünf Uhr gehts los. Du bist der einzige, der die Firma noch retten kann“.
Nun, da ich dies schreibe, weiß ich, dass einen das hektische, schnelle Leben mit seinen vielen kleinen ZuTuns nur vor der großen Angst vor dem Ende ablenken soll.
Wie sie mich alle warnen, der ich zwar die Lizenz zum Lasterfahren habe, aber es eigentlich nicht kann: „Pass gut auf dich auf, fahr schön langsam, nur keine Hektik“. Alle sind besorgt, dass etwas schief geht. So dass ich mit einem mulmigen Gefühl in den Donnerstag-Morgen gehe: ob es vielleicht mein letzter Tag ist? Verscheuche diesen Gedanken im grellen Sonnenlicht des letzten Sommertags. Nicht ahnend, dass diese Fahrt und das Brimborium darum nur eine kleine Vorgeschichte ist, die mit dem Folgenden nichts zu tun hat.
Hat sie das wirklich nicht? Oder hängt grundsätzlich alles im Leben mit allem zusammen und jeder mit jedem?
Donnerstag-pervers-früh, Dreck am Stecken: die Fahrerkarte zickt, der Bordcomputer blinkt krypische Zeichen und „ungültig“ ist zu lesen. Das fängt gut an. Ich meide Rastplätze, wie Kollege T. mir empfiehlt. Wegen der ‚Bullen‘. Kurz vor der Rheinbrücke ein Stau. Vollsperrung. Jemand stirbt vielleicht. Seichter Nebel liegt in den  Auen. Genau die Stimmung, aus denen man friedliche Volkstrauertag-Fotomotive macht. Ich maile der Zentrale, dass sie den Kunden auf Verspätung einstimmt. Bleibe gelassen. Manchmal liebe ich Situationen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Im Osten ragt der Pylon der Rheinbrücke ins Morgengrau. Der Stau löst sich auf. Ich kann es noch schaffen.
Es läuft aus dem Ruder, während ich dies schreibe. Ich werde unterbrochen. Ich werde nicht gerne unterbrochen. Ist der Tod nur eine Unterbrechung?, schießt es mir in den Sinn. Ach Quatsch. Nach dem Tod kommt nix mehr. Warum sollte es auch. Es gibt keinen Gott und es gibt keine Seele und es gibt auch keine Geister. Oh ich kleingeistiger Möchtegern-Naturwissenschaftler.
Man sagt, 80 Prozent seiner Wahrnehmungen macht der gesunde Mensch mit den Augen. Nehmen Blinde also nur 20 Prozent der Welt wahr? Längst ist es Donnerstag nach 12 Uhr. Wenn ich es in der Regel-Fahrzeit für LKW-Fahrer von 9 Stunden noch nach Hause schaffen will, darf mir jetzt kein Stau mehr unter kommen. Andererseits macht eine Fahrzeitüberschreitung nach dem Dreck, den ich am Stecken habe wegen der kaputten Fahrerkarte, nun auch nichts mehr aus. Wenn ich gestoppt werde, kostet das 500 Euro und es gibt Punkte. Kurz vor Karlsruhe überholt mich der pechschwarze Laster einer Sandfirma ganz in der Nähe von Zweibrücken. Böser schwarzer LKW, viel zu schnell, nur drei Meter hinter einemKleinwagen, der sich bei exakt 80 km/h auf der linken Spur an die Geschwindigkeitsregeln hält. Die Sandlaster der Firma gleich um die Ecke hat mein Vater auf den Namen Der Tod getauft, wegen ihrer wuchtigen Gewalt und den alles verachtenden Fahrern. Ich bremse und lasse Den Tod vor mir einscheren, damit er den Kleinwagen rechts überholen kann. Der Tod scheitert an einer grüne Limousine, die auf der rechten Spur sich ebenfalls an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält. „Man könnte sagen, die beiden bremsen den Tod aus“, lache ich in mich hinein und fabuliere eine Geschichte – nichtsahnend der Ereignisse, die kommen werden – die vom Tod handelt und dass es besser ist, den Tod vor sich zu haben, anstatt auf den Fersen.

In diesem Moment muss er in den letzten Zügen gelegen haben. Hinter seiner Sauerstoffmaske verschwimmt die Welt. Weniger Licht.

Abends liegt das neue Spuren-Heft auf dem Tresen in der Freilandküche. Sofasophia ist aus Bern angereist. Sie schreibt für das Schweizerische Magazin, welches sich oft bewegender Themen annimmt. Dieses Mal zum Thema Tod.
Ein friedlicher Abend, ich schlafe ein. Gegen Mitternacht schrecke ich hoch, ringe um Luft, für den Moment scheint mein vegetarisches Nervensystem auszusetzen. Ich kann weder schlucken, noch mit den Augen blinzeln, meine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen, sprichwörtlich stehe ich senkrecht im Bett. „Es war nur ein Traum“, sagt Sofasophia mit beruhigender Stimme.

Vielleicht war dies sein letzter Atemzug?

Der Freitag läuft schleppend, wie in Trance. So als würde etwas nicht stimmen mit der Welt. Drei Uhr nachmittags machen wir einen Spaziergang auf der Sickinger Höhe. Dunkle Wolken, Nieselregen, in altem Grün verschwimmen Bäume am Horizont. Ich sehe verdammt schlecht, denke ich, fokussiere die Skyline eines Dörfchens, welches sich hinter einem Hang versteckt und nur wenige Häuser preis gibt. Fast wie im Leben, fast wie beim Sehen. Das Unsichtbare ist immer um ein Unendliches größer, als das Sichtbare.
Meine Augen sind schlecht. Ich habe Angst, die Welt zu verlieren.
Abends rufe ich QQlka an, ob er zum Offenen Atelier und zur Malaktion kommt.
„Büssi ist tot“, sagt er. Seine Stimmer klingt belegt. Er ist den Tränen nahe. Ich auch. Lasse mir nichts anmerken. Ich habe es leicht. Ich bin weiter weg. 100 Kilometer und 10 Jahre. Büssi, Antipopikone, mit ihm habe ich Jahre in einer WG gelebt. Fast alles vergessen.
Vielleicht schützt mich meine Blindheit und mein Vergessen vor meinen Gefühlen.
Erst nachts wird mir klar, dass alles, was ich in dieser Geschichte zusammengetragen habe, zusammen gehört. Es ist ein größeres Ganzes, das ich nicht begreifen konnte, weder gestern noch vorgestern noch überhaupt. Erst jetzt, da ich dies schreibe fängt an zu stehen was hier steht und ich habe das Gefühl, dass noch viel mehr kommen wird von dem ich noch viel weniger Ahnung habe.

Machtlos abwarten.

Wie konnte ich den Tod nur ignorieren? Dass er vor mir ist, hinter mir und um mich, das Ulm, um Ulm und um Ulm herum des Unbegreiflichen.