Web 3.0 – die Rückkehr der Handschrift

Vollständiger Verlust des Glaubens. Die vielfältige Herumreiserei bringt es mit sich, dass ich wieder eine Kladde aus echtem Papier besitze, in die ich allmögliches Zeug hinein kritzele. Das Internet, welches mich die letzten Jahre intensiv begleitet hat, ist plötzlich ganz weit weg. (Nein tot ist es nicht, denn es ist nicht totzukriegen).

Ich muss mich neu ordnen. Unter dem Damokles Schwert der Reise im März werde ich unter ähnlichen Umständen leben wie die letzten drei Wochen. Fernab jeglichen Computers oder – wenn ich möchte – barzahlend in Webcafes an wildfremden Computern, bei denen man erstmal Tasten suchen muss, auf proprietäre Software angewiesen ist, sprich mit Windows arbeiten muss. Das macht doch keinen Spaß.

Der Web 3.0 Mensch ist nur gut, wenn er zu Hause an seinem eingespielten System mit den eigenen Hacks und Programmen arbeitet. Unterwegs ist er Legastheniker.

Ja, ich habe den Glauben an das Netz und das Immer-Online-Sein verloren.

Die Kladde, die mir QQlka vor ein paar Tagen geschenkt hat, hat schon gute Dienste geleistet. Ich schrieb nachts in Mainz, kritzelte in Kneipen, zeichnete Skizzen, fummelte im Zug in der Nähe von Ingelheim einen Artikel übers Reisen, bemalte frisch getoastetes Brot mit einem Portrait des Vorsitzenden des Mainzer Kunstvereins. Das Handschreiben fiel mir anfangs schwer. Nun geht es wieder. Weiß Gott, warum ich hier an meinem Computer sitze, anstatt diese Zeilen in die neue Kladde zu schreiben … ach ja, ich bin zu Hause. Zu Hause, was für ein großes Wort. Zu Hause ist es heimelig. Man ist umgeben von all den tollen persönlichen Gegenständen, wunderbaren karierten Decken, die einem die Knie wärmen, eigenes Geschirr, Bilder an den Wänden nach eigenem Geschmack. Zu Hause ist ein großes Wort. Zu Hause ist das Beste, was einem passieren kann.

Nein, nicht ganz. Besser als zu Hause, ist, unterwegs zu sein und sich so fühlen, als wäre man zu Hause. Etwa wie damals vor acht Jahren, als ich hinunter radelte nach Andorra. Das war 1500 km zu Hause, obwohl ich jeden Abend an einem anderen Ort verbracht habe. Die Straße war mein Heim. Wo ich abends müde war, begann ich stets, mich wohl zu fühlen. Das war auch zu Hause, eine 1500 km lange Schneiße des Wohlfühlens mitten in Europa. Und so wird es wieder sein, wenn ich Mitte März aufbreche nach Italien.

Dann wird es kein Weblog mehr geben. Stille wird herrschen. Alles was hier geschrieben werden würde, steht dann handgekritzelt in der Kladde, die mir QQlka geschenkt hat. Daneben tummeln sich Zeichnungen und Skizzen, denn im Gegensatz zu vor acht Jahren, habe ich meine Skrupel gegenüber dem „gezeichneten Wort“ abgelegt. Ich bin endlich da, wo ich immer hin wollte. Im Reich des vollkommenen Freestyle.

Du kannst als Web 3.0 Mensch tun und lassen, was du willst, aber du wirst nie einen plattformübergreifenderen Status erreichen, als den, den du mit einfachem Papier und Bleistift erreichen kannst.

Die Technik, so revolutionär und unvorstellbar sie sein mag, steht dir immer im Weg.

Direktes kann man nur mit knallharten direkten Mitteln authentisch rüber bringen.

Ein Gerät dazwischen zu schalten, etwa ein PDA oder ein Handy, schwächt den Effekt, legt sich kaum spürbar, aber immer da, wie ein Kondom zwischen dich und die Wirklichkeit.

Es dürfte hinreichend klar sein, dass sich wirkliche Wirklichkeit nur individuell und für alle Anderen unsichtbar im eigenen Kopf abspielt. In Deinem und Deinem und auch in meinem Kopf. Aber die nächste Stufe, die Wirklichkeit darzustellen und sie an Andere möglichst original zu vermitteln heißt Papier und Bleistift, nicht Tastatur und Festplatte. Je primitiver die Mittel, desto stärker sind ihre Ausdrucksmöglichkeiten.

Die mündliche Überlieferung ist das primitivste Mittel der Wissensvermittlung. Als Kind der Handschrift – Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts – ist es mir leider nicht vergönnt mit dieser brillianten Form des sich ausdrückens zu arbeiten. Ich habe es nie gelernt, bin müde, abgehalftert und leer – einfach zu spät geboren.

Dichterin E. brillierte vorhin mit äußerst seltsamen literarischen Gebilden, über die ich die Pflicht habe, morgen früh zu schreiben. Ihr Experiment bestand darin, dass sie zwei Jahre lang so genannte Notate anfertigte, fünfminütige assoziative Texte, die sie in Oktavheften sammelte und deren Inhalt aus dem bestand, was in willkürlicher, assoziativer Folge in ihrem Kopf vorging. Assoziativ ist individuell. Individuell erzeugt automatisch eine Schranke, die einen vom Rest der Welt trennt. Will sagen: das was du assoziativ, ohne jegliche Redaktion und Logik niederschreibst, wird nie ein anderer Mensch dieser Welt verstehen. Zu unvorstellbar ist einfach die Komplexität deines Gehirns, als dass je ein Mensch die selben Assoziationen hat, wie du. Denkst du „Kamel“ und danach „braune Wand“, wird ein anderer, der „Kamel“ denkt in der Folge vielleicht „Zirkus“ denken. Die Wege die wir einschlagen sind unberechenbar. Es ist unwahrscheinlich, dass je im Universum zwei Menschen den gleichen Weg beschreiten. Unsere Assoziationen sind einmalig wie Fingerabdrücke.

Dichterin E. las unverständliches Zeug. Und die Gäste der Lesung hörten unverständliches Zeug.

Es gibt zwei Arten von Lyriklesungsbesuchern: die einen schütteln den Kopf und sagen, „das soll Lyrik sein, versteh ich nicht, das reimt sich ja noch nichtmal.“ Die anderen fallen in einen dumpfen Dämmerschlaf, in dem sie nur noch schemenhaft das Gelesene wahrnehmen und driften, wenn sie Glück haben, ab in assoziative, eigene Welten. Das Gebotene tritt in den Hintergrund. Ein Glücksfall. So kann es sein, dass man – besonders im Fall der Lesung mit Dichterin E. – zum Beispiel bei dem Wort „Kamel“, das sie laut und deutlich sprach, abdriftet in eine eigene Gedankenkette zum Thema Kamel und irgendwann hochschreckt, wenn Dichterin E. etwa „Garten“ liest, und man dann denkt, „huch, hier bin ich wieder, wir sind wieder auf dem selben Weg, nur habe ich vorhin bei „Kamel“ einen anderen Abzweig genommen, bin parallel gelaufen. Garten, Juhuu!“

Wir leben in einem vielmaschigen Netz der Assoziationen.  In den Löchern des Netzes ist Angst und Unsicherheit. Angst und Unsicherheit, den Anderen nicht zu verstehen, Angst und Unsicherheit, selbst nicht verstanden zu werden. Halten wir uns also an die feinen Fäden, auf denen wir, jeder für sich, jeder auf seinem eigenen roten Faden durch die Welt balancieren und wir kommen prima zurecht, wir Menschen.

2 Antworten auf „Web 3.0 – die Rückkehr der Handschrift“

  1. hmmm, das ist echt interessant. angefangen mit qqlkas kladde in berlin über den kunterbunter, der sich jetzt wieder ein skizzenheft bastelt, über luna, die gerade auch erstmal lebt und dann davon erzählt, weiter über mich selbst, die ich gerade aus den unmöglichsten ecken meines zimmers verdammt viele leere hefte zusammentrage (die ich zu benutzen gedenke, wenn ich mal fertig bin mit gemütlichem löcher-in-die-luft-starren und beim machen und tun noch zeit dazu finde), bis hin zu dir, der du auch lieber wieder analog schreibst und skribbelst…

    ich meine, is ja auch die frage, ob eins alles, was so im hirn und im bauch rumschwurbelt, direkt einer großen allgemeinheit zugänglich machen MUSS … (muss eins ja nu echt nicht).

    … und trotzdem isses ja auch wieder nett, beim denken, schreiben und lesen über web 3.0 (ahahaha, finde ich übrigens sehr köstlich, dass du das so nennst), beispielsweise über die kommentar-funktion hier, festzustellen und kund zu tun, dass eins mit seinen ureigensten gedanken in der allgemeinen schnittmenge derselben (also sagen wir mal, auf einem niedlichen knoten im netz) gar nicht so unverstanden und alleine ist.
    hm.
    seltsame sache, das mit dem kommunizieren. :)

    zu den ferien auf dem bloggerhof: da warte ich doch lieber, bis der hofherr persönlich wieder anwesend ist.

    liebe grüße!

  2. Jaja, der Bloggerhofherr wird im Juni wieder da sein, hofft er. Und da freut er sich natürlich auf Unentwegtes.
    Web 3.0 ist gut gefragt bei Google, sowie web 4.0 bis 10.0. Es gibt zu viele Webs. Es lebe die Kladde und ihr wahres Web 3.0, die Rückbesinnung aufs Echte.

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