… weiterlaufen

Zwischen den Landstraßenwalks lag die Party. Legendär immer karfreitags, mitten in der Stadt mit Menschen aus ganz Deutschland, die sich einmal im Jahr nur an diesem Termin sehen. Stuttgart war stark, aber auch Karlsruhe, Köln, München und Hamburg, Berlin vermutlich sowieso.

Über die Party gibt es nicht viel zu berichten. Man trank, scherzte, frischte Freundschaften auf.

Aber der Heimweg, nachts um fünf, zu Fuß über die Landstraße, der war bemerkenswert. Es ist wie Miller einmal gesagt hat: die Gedanken, die einem bei einem Spaziergang durch den Kopf gehen, sind guter Stoff, durchaus tauglich, einen Roman zu füllen, aber mit jedem Schritt den man tut, knetet man sie in den Asphalt, anstatt sie aufzuschreiben. Oder habe ich das  gesagt, und Miller hat nur irgendwann vor 50 Jahren so ähnlich vorgelegt?

Als treiben die Füße das Hirn an. Die Luft roch gut und ich dachte darüber nach, einfach weiter zu laufen, sechzig siebzig Euro in der Tasche mit den zwei Pullovern am Leib und den guten Wanderschuhen, die noch kurz zuvor bei einer wilden BoobycarPartyrace ordentlich Gummie gelassen haben. Weiterlaufen und den Trubel und die Turbulenzen und die Erinnerungen in den Asphalt stampfen, Schritt für Schritt auf der Suche nach Reinigung. Reinigung? Wessen? Meinerselbst? Der Seele? Des Alkohol und Nikotindurchtränkten Körpers? Einfach weiterlaufen. Den Bächen folgend, die sich in größere Bächer ergießen, in Flüsse, Ströme, Meere, die Küste entllang bis zum Ende des Kontinents.

Ich schloss die Augen, lief auf der Mittellinie. Die Luft roch gut. Ich erinnerte mich: früher, als das Leben noch nicht so dreckig war, roch sie besser. Mit voller Wucht erfüllte sie die Lunge. Am besten roch sie in einer kleinen Stadt nördlich mit 40.000 Einwohnern auf einer Brücke im Juni.

Das ist lange her.

Als ich die Augen wieder öffnete, lief ich am Straßenrand. Das ist logisch. Ein Bein ist immer stärker als das andere. Deshalb zieht es den Blinden nach links oder rechts. Ich habe einmal einen Bericht gesehen über einen Waldläufer, der empfahl, einen Stein in die Hand zu nehmen, um dem starken Bein die Kraft zu nehmen und so einen Ausgleich zu schaffen. Also begab ich mich wieder auf die Mittellinie, hielt den Arm zur Seite, das sollte es doch auch tun. Die Vögel zwitscherten. Ich stellte mir vor, die Welt zu Fuß zu umrunden und dachte an den Film mit dem Kriegsgefangenen, der vom sibirischen Gulag bis in den Iran marschiert ist, einzig ein Kanten Brot in der Tasche und die Lust frei zu sein im Gepäck. Das ist das Problem in dieser Gesellschaft: entweder vergeht die Lust frei zu sein und das ist nur halb so schlimm wie Impotenz oder man streicht an den Gittern des Käfigs und wähnt sich frei. Wenn der Käfig groß genug ist, weiß man nicht, ob man drinnen sitzt, oder draußen.

Diesmal landete ich im anderen Straßengraben, stieß gegen einen Baum, behielt die Augen geschlossen, tastete mich durch unwegsames Gelände bis auf den Acker und lief querfeldein hinüber zum einsamen Gehöft. Ich zählte die Schritte und lächelte bei dem Gedanken, dass man oft wie auf einer Bühne einem imaginären Publikum gegenüber handelt, stets die Monitore im Hintergrund, die einem sagen wer oder was man ist, wie man gerade dasteht, dabei ist das doch eigentlich gar nicht so wichtig.

Genau wie mit geschlossenen Augen über den Acker laufen: du weißt, dein Haus steht irgendwo in diese Richtung und es befinden sich keine Hindernisse auf deinem Weg. Du könntest die Augen geschlossen halten und würdest mit hoher Wahhrscheinlichkeit nach Hause kommen. Trotzdem lässt eine geheimnisvolle Kraft deine Augen sich öffenen wollen, sehen wollen, als ob das den Weg verkürzt.

Du hast zu lange gesehen. Du hast zu lange gemonitort. Du hast dich zu sehr orientiert an nicht fixen Punkten. Ich stolperte in einer Grenzfurche. Die war fix. Ich wusste dass sie da ist, aber ich erinnerte mich nicht, dass die Hoheiten Landwirte ihre Ländereien so tief auseinander pflügen.

Der Sehende – und das kann man gerne zurechtbiegen wie man will – verunscharft sein Bild. Er stumpft ab. Pauschalisiert, vereinfacht und nimmt somit eine immense Fahrt auf. Er verlernt zu riechen und zu hören und zu fühlen.

Ich öffnete die Augen, stand nur wenige Meter vor dem einsamen Gehöft. Der Mond warf meinen fahlen Schatten gegen die Hecke.

Mein Haustürschlüssel war verschwunden. Aber statt diesem Wink zu folgen und weiterzulaufen, kletterte ich über den Scheunenboden in die Künstlerbude, so sitze ich nun hier, eingesperrt, müde, …

2 Antworten auf „… weiterlaufen“

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