Kunststraßen

(Text aus der CD zum Bliestallabyrinth)

Wie alles begonnen hat, fragen Sie? Nun, ich kann es Ihnen erzählen. Ich war von Anfang an dabei. 1995 hat alles begonnen. Zumindest das, was man heute noch sehen kann von dem langen Weg, kreuz und quer durch Europa. Damals war ich noch kein Künstler, sondern ein ambitionierter Fotograf, stets auf der Jagd nach exquisiten Motiven, wobei mein Schwerpunkt auf Reisefotografie lag. Ich verfasste Reportagen für Hochglanz-Magazine, meist über nordeuropäische Länder.
Am 12. Juli 1995 startete ich mit vollgepacktem Fahrrad im Hof der Galerie Walpodenstraße 21. Im Gepäck Zelt, Schlafsack, Kochutensilien, zwei Nikon Spiegelreflex-Kameras und eine halbe Packtasche voll 35mm Filmen.
„km 0 Walpodenstr. 21 Mainz, ein Gewitter zieht auf,“ notierte ich in mein Tagebuch.
Das graue Band, das niemals endet
Vor mir lagen 3600 km Straße. Das graue Band, das niemals endet, nannte ich sie ehrfürchtig. Der Weg führte mich, zunächst alleine, acht Tage lang Richtung Ostsee. Hinauf auf den Taunus, den Flüssen folgend hinüber zum Harz und über damals noch sehr holprige Straßen bis nach Mecklenburg.Dort gesellte sich Paul Esser-Kukulka (QQlka) zu mir. Gemeinsam setzten wir über von Rostock nach Trelleborg. Alle zehn Kilometer machte ich ein Bild der bereisten Strecke. Egal was da kommt. Die Distanz bestimmt das Foto und nicht etwa, ob es an dieser Stelle besonders malerisch ist, oder ob dort ein imposantes Bauwerk steht.
In Tagesetappen von 100 km durchquerten wir das riesige Schweden mit seinen endlosen Wäldern und den feinen Seen. Meist zelteten wir wild, wuschen uns in Seen. Ein nicht enden wollendes Sommerhoch lag über dem Land und begleitete uns über Almhult (Ikea-Stammsitz), Husquvarna, vorbei an Stockholm nach Gävle, Sundsvall und Boden. Wir überquerten den Polarkreis, passierten bei Pajala, wo wir eine durchzechte Nacht mit vollkommen aus der Bahn geworfenen Schweden und Finnen verbrachten, die finnische Grenze. Hinauf nach Kautokeino und per Bus nach Alta in Norwegen.
Bis zum Nordkap haben wir es nicht geschafft. Nach über sechs Wochen auf der Straße brachen wir die Reise ab und nahmen die Nachmittagsmaschine nach Oslo. Die skandinavische Halbinsel saußte mit nahezu Schallgeschwindigkeit unter uns hindurch.
Was geblieben ist? Nun, der Kapschnitt ist geblieben. Eine Fotoserie bestehend aus 360 Schwarz-Weiß-Fotos, die ich ein paar Monate später in QQlkas neuer Galerie Walpodenstraße 21 ausstellte. Die Reise hatte mich zum Künstler und QQlka zum Galeristen reifen lassen.
Was kommt als nächstes? Du musst den Weg weiter gehen.
Murphy’s Pub Schnitt
Im Frühjahr 1996 startete ich erneut zusammen mit QQlka, um eine Kunststraße zu bauen. Das graue Band führte uns nach Westen. Durch Lothringen und die Champagne bis nach Paris, von dort der Seine folgend nach Rouen und Le Havre, wo wir in See stachen nach Rosslare in Irland. Unser erklärtes Ziel war Murphy’s Pub in der kleinen Stadt Dingle, ganz im Westen der Insel. Aus der Fotoserie ist Murphy’s Pub Schnitt entstanden. Die Bildfrequenz bei dieser Kunststraße betrug 5 km.
Das Kunststraßenkonzept festigte sich. Ich überlegte, ob es möglich sei, von Galerie zu Galerie zu tingeln und die Orte, in denen die Ausstellung gezeigt wird, mit Kunststraßen zu verbinden. So entstand die dritte Kunststraße, Mainz-Weikersheim-Fürth. Vorab klärte ich die Ausstellungstermine mit den Galeristen. Drei Orte machte ich fest: Lothar Böhms (Kaslowski) Kofferfabrik in Fürth (heute Galerie Brokowski), der, vor allem durch sein Konzertprogramm bekannte Club W71 in Weikersheim, in dem auch schon die Toten Hosen gespielt haben und natürlich die Galerie Walpodenstraße 21 in Mainz. Dann fotografierte ich den Weg, wieder per Fahrrad unterwegs, entlang des Mainradwegs. Die Ausstellungen folgten ab Winter 1996.
Für zufälliges Lokalkolorit sorgte in Fürth das Versandhaus Quelle. Während der Reise hatte ich Herrn Lämmermann kennengelernt, ein leitender Angestellter. Er war von der Kunststraßenidee so angetan, dass er mir zwei Palletten Kataloge zur Verfügung stellte, auf welcher die carrerabahnähnliche Kunststraßenkonstruktion zu liegen kam.
Derweil überschlugen sich die Ereignisse. Die Redakteurin des Outdoor-Magazins tours rief mich an und fragte, ob ich bereit wäre, eine Kunststraße auf der Intercycle Cologne zu zeigen. Nun gut, ist zwar nicht die Art-Cologne, aber immerhin Köln und du kannst dann ohne zu lügen behaupten, du hast schon einmal auf der Kölnmesse Kunst gezeigt. Ich willigte ein.
Reich machte mich der Kunststraßenbau aber nicht. Das Konzept erwies sich zwar als grundsolid und, ähnlich wie Das Graue Band, das niemals endet, als flexibel, ausbaufähig, jede Wendung möglich machend, aber die Konstruktionen von bis zu 50 Metern Länge waren einfach unverkaufbar. Wer stellt sich schon einen kurvenreiche Skulptur, auf der Schwarz-Weiß-Bilder kleben ins Wohnzimmer.
Deshalb begann ich 1997 als Zubringe-Fahrer für die Post zu arbeiten. Das spülte einerseits Geld in die Kasse, brachte mich andererseits nicht allzu sehr vom Weg ab. Straßen waren mein tägliches Geschäft. Eine nie veröffentlichte Serie meiner Postrouten durch Rheinhessen schlummert in den Archiven.
Die Straße nach Gibraltar
Erst 2000 baute ich die nächste Fernkunststraße. Die Straße nach Gibraltar. Sie ist mein wohl harmonischstes Werk. Vier Wochen alleine per Fahrrad durch Frankreich und dabei in unregelmäßigen Abständen den Kunststraßenfilm „gedreht“. Nach und enthüllte ich die Zusammenhänge zwischen Kunststraße und Film. Mir wurde klar, dass ich Filme mache, die nicht wie herkömmliche Filme durch Zeit gegliedert sind, sondern durch die räumliche Distanz der Bilder. „Als die Betrachter laufen lernten“, dachte ich bei mir. Das war irgendwo in den Cevennen. Ich fotografierte eifrig. Der meditative Charakter dieser Reise ließ Rückblicke zu. So erinnerte ich mich all der Ausstellungsbesucher, wie sie an den Konstruktionen entlang flanierten und sich Bild um Bild vorwärts bewegten auf den Pfaden, die ich in der realen Welt für sie eingefangen hatte.
Die Straße nach Gibraltar ist unvollendet. Das Stück zwischen Andorra und dem Affenfelsen reizt mich noch heute. Sicher gehe ich es irgendwann an.
Um die Jahrtausendwende wechselte ich den Wohnsitz von Mainz nach Zweibrücken, baute die ehemalige Scheune des Familiensitzes Rinckenhof um in ein Wohnatelier, beschränkte mich auf kleinere Projekte und verkaufbarere Kunst.
Kultursommer Rheinland-Pfalz
Die Kunststraße Nummer 11 (Kelf) wurde 2001 als Projekt des Kultursommers Rheinland-Pfalz angenommen. Die Ausstellung fand auf dem obersten Deck des Parkhauses am Hallplatz, Zweibrücken statt. Man konnte mit dem Auto bis zur Kunst vorfahren. Die Kelf zeigt den 9 km langen Weg vom Flugplatz Zweibrücken bis zum Kreuzberg. Damals beides Konversionszentren. Die ehemals militärisch genutzten Areale wurden in DOZ (Designer Outlet Center) und Fachhochschule umgewandelt. In diesem Spannungsbogen traf die Ausstellung das Motto Stadt-Land-Fluss des KuSo 2001 vorzüglich. Die Kelf ist die letzte Kunststraße, die ich in aufwändiger Installation zeigte.
Derivate des Kunststraßenbaus
Ich widmete mich nun den teils bizarren Ausgeburten des Straßenrandes. Die Erotik des Straßengrabens ist eine solche. Aus zerfledderten Pornoheften, die man manchmal im Straßengraben findet, fotografierte ich Szenen, die teilweise wie verwitterte Fresken, manchmal auch ein bisschen pop-artistisch wirken. Die Erotik des Straßengrabens ist eine fortschreitende Arbeit, immer wieder ausgestellt, unter Anderem in Wiesbaden und in Paris.
Ein weiteres „Derivat“ des Kunststraßenbaus ist die Straßennamenfotografie. Ein Konzept, das ich 2003 in Zweibrücken startete. Die Namensgebung einer Stadt ist hochgradig charakteristisch für diese. Die seriellen Arbeiten zeigen Bildtafeln, wie sie auch für das vorliegende Bliestallabyrinth verwendet werden, mit je 54 Motiven. Bis Dato sind folgende Städte mit Straßennamenserien dokumentiert: Zweibrücken, Mainz, St. Ingbert, Homburg (Saar), Pirmasens, Landau, Kaiserslautern, sowie ein Stückchen Saarbrücken. Im Rahmen eines Stipendiums der GEHAG Wohnbaugesellschaft fotografierte ich im Januar 2005 die Berliner Gropiusstadt, sowie Teile Neu Köllns und des Bezirks Mitte.
Kunstschaffen mit milliardenteurer Technik
2005 fand eine einschneidende Änderung für den Kunststraßenbau statt. Ich kaufte ein GPS, stützte mich von nun an auf die Milliarden Dollar teure Satellitentechnik und referenzierte sämtliche 76 Stationen der Kunststraße Landau-Zweibrücken mit Geokoordinaten. Somit ist es möglich, die Bildstandpunkte auch Jahre später ausfindig zu machen und die Veränderungen der Gegend zu beobachten.
Das Bliestallabyrinth ist die konsequente Fortsetzung der Kunststraße Landau-Zweibrücken. Es wird in der aktuellen Ausstellung als serielle Arbeit auf den Bildtafeln, welche ich für die Straßennamenfotografie entwickelt habe präsentiert. Es knüpft am Endpunkt der Trasse Landau-Zweibrücken, dem Zweibrücker Herzogplatz, an und folgt in Abständen von 50 bis 100 Metern einem bizarren Zick-Zack Kurs. Ganz wie im klassichen Labyrinth gibt es nur einen Weg ohne Sackgassen. Der Weg nähert sich mehrmals (in Schwarzenacker und Ingweiler und Wörschweiler) bis auf wenige Meter dem Ziel, Galerie Beck, und schweift wieder ab. Das Thema ist so vielfältig wie die wunderbare Gegend zwischen Zweibrücken, Homburg und Blieskastel. So liegen die Höhen der Weißen Triesch dicht an dicht mit der Wohnzone in Einöds „Dichterviertel“ (Heinrich-Spörl-Straße) und dem unheimlichen Klosterwald um die Ruine Wörschweiler. Gewerbegebiete gehen Hand in Hand mit der malerischen Guldenschlucht bei Wattweiler und dem perfekt ausgebauten Bliestalradweg. Und über allem thront das Graue Band, das niemals endet.

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