Straße nach Gibraltar 016

anfang (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum Menschen langjährige Beziehungen eingehen. Es ist mir ein ebenso großes Rätsel, warum Menschen, die in einer langjährigen Beziehung leben, sich trennen. Die Liebe ist ein paradoxer Zustand. des Nichtwollens. Sie ist ein Ort der Ruhe. An den Rändern der Liebe entstehen Turbulenzen, die erhebliche Kräfte freisetzen. Stets sind es Grenzgebiete, in denen die schlimmsten Kräfte wüten. (Michel P., Chanteur Cycliste)

Am 3.  April 1994 schien die Sonne im Pariser Parque de la Villette. Eine riesige silberne Kuppel, in der sich ein Museum befindet, glänzte mit den knallrot gestrichenen Metallskulpturen, die überall verteilt waren um die Wette. Auf den Wiesen lagen Liebespaare. Ich beobachtete die Szenerie. Besonders der Geschmack internationalen Staunens, welches sich hier aus touristischen oder geschäftlichen Gründen versammelte hatte es mir angetan. Nachdem ich eine Weile im Park umher spaziert war und den besonderen Architekturen-Mix angeschaut hatte, ließ ich mich auf einer Betonbank nieder, die durch eine Kuppel gegen den Lärm spielender Kinder abgeschirmt war. Die Kuppel hatte obendrein den Vorteil, dass sie die kräftige Frühlingssonne bündelte und um die Mittagszeit gut aufgeheizt war. In dieser wohligen Wärme döste ich. Die Stimmen der Umgebung verschwammen. Touristen und Kleinfamilien und Geschäftsleute liefen an mir vorrüber. Plötzlich hörte ich ein leises Geräusch aus dem Nichts: „Pssst!“, machte es. Verwundert schaute ich auf. Der Ursprung des Geräuschs war nicht zu orten. „Psssst!“ Da! Schon wieder. In der schrägen Sonne konnte ich nicht erkennen, wer da auf dem Weg vor mir steht und mich an-pssstet. Vielleicht war das Psst auch gar nicht für mich bestimmt? Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Erneut drang ein Pssst in mein Ohr, diesmal gefolgt von einem leisen: „Ja, duda, mit dem roten Rucksack.“ Ich schaute auf meinen Rucksack, er war rot. „Nu schau nicht so,“ sagte die Stimme, „hier bin ich.“ Es schien, als kämen die Worte direkt aus der Kuppel hinter mir, aber das war doch nicht möglich. Vielleicht machten sich einige Kinder einen Spaß? Ein steter Strom von Menschen lief an mir vorbei. Keiner von ihnen stand auch nur für einen Moment still. Schon war ich versucht, aufzustehen, und die vermeintlichen Scherzbolde hinter meinem Sitzplatz zu überraschen, da flüsterte es erneut: „Hier bin ich.“- „Wo?“ fragte ich. „Na hier, gegenüber. Wenn Du Deine Sonnenbrille aufziehst, dann kannst Du mich sehen.“ Die Sonne erschwerte meine Sicht ungemein. Die Menschen, die an mir vorüber zogen, nahm ich nur als Schatten wahr. Vorhin hatte ich mir vorgestellt, wenn sie schnell genug an mir vorbeirennen würden, entstünde vielleicht ein Stroboskopeffekt durch ihre langen Schatten. Die Luft würde flimmern und wenn ich zur Epilepsie neigen würde, könnte ich einen Anfall erleiden. Aber sie zogen ruhig wie ein Fluss am Ende seiner Reise. Auch mit Sonnenbrille, war der Ursprung der Psst-Stimme nicht zu orten. Ich hielt die Hand über die Stirn, aber da war niemand. „Ja, richtig! Du schaust genau in meine Richtung“, sagte die Unsichtbare, „vielleicht hättest Du Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken.“
Das war aufregend. Eine unsichtbare, geheimnisvolle Stimme, vermutlich eine Frau, forderte mich zu einem Tete a Tete, mitten in Paris. „Wenn ich wüsste, wer und wo du bist, dann würde ich das vielleicht tun.“ sagte ich. „Warum so ängstlich? Du siehst gar nicht aus, als könnte dich das Unbekannte bremsen.“
„Wer bist Du?“ fragte ich.
„S.“sagte sie.
Wir stellten uns einander vor. Die Situation war grotesk. Für einen Moment dachte ich, ich wäre vielleicht verrückt. Es muss ein bizarrer Anblick gewesen sein: Ein Mann mit rotem Rucksack und Sonnenbrille reckt den Kopf hektisch wie ein Huhn und führt dabei Selbstgespräche.
„Liebe S.,“ sagte ich, „natürlich würde ich gerne einen Kaffee mit dir trinken, aber sei mir nicht böse, ich weiß gar nicht, ob du existierst. Vielleicht bin ich verrückt und denke mir dich nur aus? Könnte ja gut möglich sein, so lange alleine unterwegs.“
„Ich versichere dir, du bist nicht verrückt, mich gibt es wirklich.“
„Wo bist du?“
„Ich bin genau gegenüber, nur 20 Meter entfernt.“
„Das ist nicht möglich,“ sagte ich, „wir flüstern. Du bist eine Phantasie, eine schleierhafte Figur jenseits der Schatten.“
„Was für dich Schatten ist, ist für mich Licht, was für dich Wärme ist, ist für mich Kälte. Es kommt immer auf den Standpunkt an. Wichtig ist doch, dass wir miteinander reden. Unsere Worte sind von beiden Seiten gleich. Sie lügen nicht.“
Plötzlich blieb es still. Das Geräusch von Schuhen aller Art auf dem Weg vor mir. Die Schatten flimmerten. Ich war allein.
„Hallo?“ fragte ich.
Nichts.
„Hallo, …, bist du noch da?“
Die Zeit verging. Stille. Ein Kind boltzte einen feuerroten Ball quer über den Weg. Wie ein Blitz flog er nur wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei. Ich schaute nach hinten. Der Ball wirkte surreal auf der frischen grünen Wiese. Als ich den Kopf wieder nach vorne drehte, stand ein riesiger, langbeiniger Schatten vor mir. Sie reichte mir ihre kühle Hand und sagte: „Pssst!“
„Gehn wir Kaffee trinken,“ sagte ich.

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